Vor mir sehe ich Stanley, wie er mir die silbernde Kette überreicht. Er lächelt, wie ein unschuldiges Kind. „Etwas als Entschädigung wegen deinem Schutzengel." sagt er und zieht mich an der Hand, in eine starke Umarmung. Mit geschlossenen Augen, geniesse ich diese Nähe und Wärme, die von Stanley kommt. Ich will ihn nicht loslassen, sodass sowas nie wieder geschehen wird. Auf einmal wird es für eine Millisekunde überraschend heiss und ich lasse ihn sofort los. Ich schaue um mich rum. Ich stehe an einer Klippe. Mit dem Rücken, bin ich dem Tod zugewandt. Ich schaue zu Stanley, der emotionslos einen Meter vor mir steht, mit einem olivgrünen Hoodie. „Was... Stanley?" stottere ich irritiert und folge mit meinem Blick, seinen Arm, der sich in meine Richtung ausstreckt. Er läuft vorwärts. Nein, der drängt mich bis an die Spitze der Klippe. Was hat er vor? Ich halte an und mache keinen Schritt rückwärts, da ich sonst in die Tiefe stürzen würde. Mit dem Wind in den Haaren und der Kälte auf der Haut stehen wir wortlos da. Unter dem dunkelblauen Himmel mit den schwarzen Flecken die den Mond verdecken. Ich spüre seine Hand auf meiner Schulter. Seine Augen sehen leer aus. Er lebt nicht. Plötzlich spüre ich einen Ruck auf meiner Schulter. Ich will einen Schritt zurück machen, doch ich falle in die Dunkelheit.„Dolorea." höre ich von rechts. Eine relativ grosse Hand spüre auf meinem Rücken.
Ich öffne meine Augen und schaue, woher die Stimme kam. Ein Mann mit hellen Haaren und einer starken Postur, verkleidet in einer Polizeiuniform. Also hat's uns doch erwischt.
„Ihr Freund ist in der Zelle. Wir müssen noch ein paar Sachen klären. Konnten Sie sich ein wenig beruhigen?" fragt er und nimmt seine Hand von meinem Rücken. Wie soll ich mich hier beruhigen. Es mag zwar komisch klingen aber bei Tatsuno und den Anderen habe ich mich deutlich wohler gefühlt als in der normalen Welt. Doch ich habe keine Lust mit dem Polizisten über so etwas unwichtiges zu schwatzen, also nicke ich einfach. „Also, dann werde ich Sie hier mal kurz alleine lassen müssen. Rufen Sie jemanden wenn Sie etwas brauchen." sagt er, steht auf und geht. Ich schaue ihm noch eine Weile nach, bis er wirklich verschwunden ist. Den Raum in dem ich hier sitze, habe ich noch gar nichts richtig realisiert. Die Wände sind weiss und die Hochbetter aus Metall. Es gibt keine andere Türe ausser den Ausgang, welcher aus Stahlstangen besteht und ein einziges Lavabo mit einer Toilette gibt es hier im Zimmer auch nur...
Bin ich im Gefängnis?
Ich hätte ehrlich gesagt auch nichts anderes erwartet. Es hätte natürlich so rauskommen müssen. Ich denke wieder an diesen Traum nach mit Stanley. Erst übergab er mir eine Kette...
Er übergab mir diese Kette...Hastig suche ich ab wo diese Kette sein soll. Nicht in meiner Tasche, nicht in meinem schwarzen Unterkleid, nicht an meinem Hals. Ich wirble suchend um mich rum und durchsuche auch alles andere.
„Mam?", höre ich, „Was suchen Sie?"
Mein Blick schiesst zur geschlossenen Zellentür. „Nichts." antworte ich ausser Atem und setze mich auf ein Bett hin.
Der Polizist geht mistrauisch ab. Das ist eine Katastrophe! Wo ist die Kette nur?!
Ich fasse mir an den Kopf. Wie konnte ich es nur unbeaufsichtigt lassen?! Vor Verzweiflung kommen mir langsam die Tränen.
Wo ist es dann?
Habe ich es jetzt wirklich verloren?
Werde ich es nie mehr wieder sehen?Es wird schon langsam dunkel. Jedenfalls sagt es mir das schwache Licht, das in die Zelle scheint. Wie spät ist es eigentlich?
Ich habe mein Zeitgefühl verloren. Ich will die Kette. Ich will die silberne Kette. Ich muss sie zurückhaben. Der Schweiss tropft von der Stirn runter und meine Hände zittern. Habe ich nun kalt oder doch heiss? Diese Kette. Stanley's Kette. Wo ist sie nur? „Mam?" Wieder die fremde Stimme. „Ist mit ihnen alles in Ordnung?" Ich schüttle meinen Kopf langsam und schaue ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Brauchen Sie Hilfe?" fragt er ganz beunruhigt. Wieder schüttle ich meinen Kopf.
Ich selber merke schon, wie ich langsam wahnsinnig werde. Meine Hände zittern immer mehr, mein Kopf nickt die ganze Zeit und der Schweiss tropft. Der Polizist macht die Zelle mit einem Schlüssel der vielen Schlüsseln am klimpernden Schlüsselbund auf und tretet ein. „Beruhigen Sie sich. Ich weiss wie traumatisierend es für Sie war, aber Sie müssen sich jetzt beruhigen." versucht er und legt eine Hand auf meinen Rücken. Langsam spüre ich, wie die Wut in mir aufkommt, gemischt mit Trauer, Verzweiflung und Zorn. „Sie sollen sich wirklich beru-"
„SIE SOLLEN STILL SEIN!!!"
Der Polizist macht aus Schreck einen Schritt zurück doch kommt gleich wieder näher. „Ich hole jemanden der-"
„NEIN!!!"
Mit einem Ruck stehe ich auf.
„Sie holen niemanden. Jetzt sind es nur wir die hier im Raum sind." sage ich drohend. Aber wieso kommt plötzlich diese unglaubliche Kraft in mir auf?
Der Polizist will gleich aus der Zelle rennen doch ich bin vor ihm an der Zellentüre und verschmelze das Schloss sodass es schwierig wird, es aufzukriegen. Meine Hand ist schon glühend orange und meine Venen sieht man deutlich durch meine pechschwarze Haut.
„Ist das nicht lustig?" frage ich den eingeschüchterten Polizisten. Wieder dieser Schmerz. Meine Zähne, mein Kopf, mein Rücken und meine Knöchel. Alles schmerzt.
„Sie müssen sich einkriegen!" ruft der Polizist und drängt sich selbst in eine Ecke. „Hol Tatsuno da raus. Wo ist er?" frage ich ihn in einem ungewöhnlichen, zweistimmigen Ton. Eine normal und eine eher tief.
Meine Augen brennen schon und kurz darauf sehe ich auch alles rot. „Er ist in der Zelle 50 im Block C!" sagt er hastig. „Der Block für Schwerverbrecher." fügt er noch hinzu.
Sein Schweiss kullert ihm literweise über die Stirn. Ist ja auch klar.
„Führen Sie mich dorthin." befehle ich und strecke eine Hand nach ihm aus, um Vertrauen zu gewinnen. Doch das geschieht nicht.
Ich sehe, wie er mit der linken Hand nach der Elektropistole abtastet. Ehe ich noch rechtzeitig etwas dagegen unternehmen konnte, schiesst er schon los. Die zwei dünnen Fäden katapultieren aus der Pistole, auf meinen Hals. Aber was brennt, bin nicht ich.
Sondern er.
Dieses Elektrozeug wirkt bei mir nunmal nicht und hat seinen Arm in die Luft gejagt. Schockiert und mit weit aufgerissenen Augen, starrt er seinen Arm an. Das ganze Blut ist bis zum Gang raus gespritzt.
Wenige Sekunden danach, schreit er wie am Spiess. Ich glaube nicht, dass er mir noch helfen kann. Was meinen Orientierungssinn betrifft, da schweige ich mal besser. Ich starre noch eine Weile auf den Polizisten runter, der inzwischen die Wand runtergerutscht ist und in der Ecke kreischt wie jemand... der nunmal seinen Arm verloren hat.
Um ihn von der Höllenqual zu befreien gehe ich in die Hocke und schaue ihm gerade in die Augen. Er schreit mir ins Gesicht. Das mag ich gar nicht. Mit dem bisschen Respekt das ich noch habe, strecke ich meinen Arm aus und platziere den Zeigefinger zwischen seine Augen. Es fängt erst an zu räucheln und schliesslich wird es schwarz um meinen Finger. Die erste Schicht habe ich schonmal hinter mir. Nach nicht zu langer Zeit, spüre ich eine etwas härtere Schicht. Das muss der Schädel sein.
Der Mann schreit und schreit bis...
Es ganz weich um meinen Finger wird.
Sein Zappeln hört auf. Seine Augen rollen nach oben und seine Muskeln werden ganz schlapp.
Schön... Meine empfindlichen Ohren haben schon einen Tinitus abbekommen.
Ich stehe auf, gehe auf die Zellentür zu und schmelze das Schloss erneut um rauszukommen. Mit einem hallenden Quietschen kriege ich die Türe auf und mache schon die ersten Schritte nach draussen.
Alles ist so ruhig.
Bin ich denn die Einzige hier?
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Dollphotographer
Misteri / ThrillerDolorea, 17, jung und ahnungslos. Yamato, ihr grosser Bruder, ist der Einzige aus der Familie, nachdem ihre Eltern auf der Reise nach Venedig wegen eines Flugzeugabsturzes umkamen. Als sie in ihrer neuen Schule sich einigermassen zurechtfand, war da...