Tränen

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Kapitel 35

Sam schaute die ganze Zeit zur Tür. Er wollte unbedingt wach sein, falls Jessie zurückkommen sollte. Aber langsam konnte er einfach nicht mehr gegen die Müdigkeit ankämpfen. Immer wieder fielen ihm die Augen zu und er musste sich wirklich anstrengen sie wieder aufzubekommen. Und so gegen halb fünf am Morgen übermannte ihn der Schlaf und er nickte auf der Couch ein.
Er wachte erst auf, als um 10 Uhr der Postbote klingelte. Sam schreckte auf und weil er hoffte, es wäre Jessica, sprintete er zur Tür, riss sie auf und wurde enttäuscht. Niedergeschlagen nahm er das Paket und die ganzen Werbungen und Rechnungen an. Ohne ein freundliches Wort drückte er die Tür vor der Nase des Briefträgers wieder zu, schmiss den Berg Briefe auf den Tisch und pfefferte das Paket des Nachbarn in die Ecke. Ihm war egal, dass 'Vorsicht zerbrechlich' draufstand.
Sam schlurfte in die Küche und machte sich einen Kaffee. Er rieb sich den Nacken, Kopfschmerzen waren angesagt. Er stöhnte und sank auf einem Stuhl nieder. Er war erschöpft und ausgelaugt.
Er dachte an Aurelia und Jessie. Sie waren bestimmt glücklich zusammen und er? Er saß alleine in seiner Küche und flennte fast. Sam fühlte sich erbärmlich und alleingelassen. Das Zimmer verschwamm vor seinen Augen. Wie ferngesteuert ging er hoch ins Schlafzimmer und holte einen verstaubten Karton aus seinem Schrank. Darin waren Erinnerungen, die er in seiner Trauer damals in seinem Schrank verschlossen hatte, weil er es nicht ausgehalten hatte, sie sich anzusehen.
Jetzt aber holte er die Kiste nach 18 Jahren wieder hervor und schaute sich die Sachen an. Es waren vor allem Fotos von Aurelia und ihm. Aber auch Klamotten von ihr. An ihnen haftete noch der süße Duft von Aurelias Parfum. Er nahm ihren lieblings-Pullover raus und sog gierig seinen Geruch ein. Seufzend legte er ihn wieder weg und holte stattdessen eine Kassette heraus. Auf dem Rücken stand: „Unsere Hochzeit". Sam wiegte sie in seinen Händen und legte sie schließlich in dem Recorder in seinem Zimmer ein.
Erst flimmerte der Bildschirm nur, dann aber erschien ein Bild.
Aurelia ging in sanften Schritten richtung Altar, wo Sam schon mit einem aufgeregten Grinsen im Gesicht stand. Während der Trauung filmte die Kamera nicht weiter. Szenenwechsel: Aurelia und Sam tanzen eng miteinander verschlungen, die Gäste klatschen und tanzen dann auch. Dann, wie sie gemeinsam die Hochzeitstorte anschneiden und alle essen. Danach wird der Bildschirm schwarz.
Sam war an den Bildschirm herangetreten und berührte ihn an der Stelle, wo Aurelia auf dem Band gestanden war. Er schluchzte laut auf und kniete sich hin. Die Tränen rannen ihm über das Gesicht und benetzten sein verknittertes Hemd. Zitternd zog er die Kassette aus dem Recorder, spulte sie zurück, indem er das Band neu aufwickelte und spielte den Film ein zweites Mal ab.
*
Ich hatte Angst! Ich wollte nicht zu James zurück. Jetzt bereute ich es, nicht bei Sam geblieben zu sein. Was er wohl jetzt tat? Ich hoffte, er würde nicht traurig sein. Ich war so egoistisch! Immer ging es nur um mich! Ich hier, ich da, aber nie habe ich Sam gefragt, ob er nicht auch Probleme hätte. Und jetzt konnte ich nicht zu ihm zurück, weil James immer wieder zurück kam und das Haus bewachte. Caro und Aurelia taten ihr bestes, normal weiter zu machen, damit James keinen Verdacht schöpfte. Ich saß nur rum, in der Hoffnung er würde verschwinden. Ich war erst den zweiten Tag weg doch ich merkte, wie seht mir Sam fehlte. Und noch erschreckender: Ich vermisste Liam! Irgendwie hatte sich meine Wut auf Liam in einen Zorn auf James entwickelt. Ich erzählte Caro davon und sie sagte sofort: „Du bist in ihn verliebt!" Ich stritt das natürlich ab aber insgeheim war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich war in Liam Brokalakis verliebt! Und nur deswegen war ich so sauer auf Elena gewesen. Sonst wäre es mir ziemlich egal gewesen. Und ich war vor allem hierher zurückgekommen, weil ich sauer auf mich selbst gewesen war. Ich war sauer, dass ich es Liam nicht sagen konnte, was ich für ihn empfand. Ich nahm mir vor, das nachzuholen, wenn ich wieder bei Sam sein würde. Doch zuerst musste ich an James vorbei und das war nicht so einfach. Er hatte sich nämlich jetzt dauerhaft postiert.
Ich winkte Caro und Aurelia zu mir und flüsterte: „Wir müssen jetzt einen Plan schmieden, wie ich von hier wegkomme! Sam braucht mich nämlich!" Die zwei stimmten mir natürlich zu und ich bedeutete ihnen, mir ins Schlafzimmer zu folgen. Dort setzten wir uns auf das Bett. „Also schon Vorschläge?", fragte Caro und blickte in die Runde. „Also ich hätte da vielleicht einen", meinte ich zögerlich. „Und der wäre?" „Naja also es klingt vielleicht erstmal dumm, aber es hat schon einmal geklappt...", meinte ich. „Und zwar, gibst du dich wieder als mich aus und lenkst ihn ab, indem du in die entgegengesetzte Richtung schwimmst, als ich hin muss. Und wenn er weit genug weg ist, schwimme ich los und kann wieder zu Sam", endete ich. „Könnte klappen", sagte Aurelia. „Aber soll ich auch noch irgendetwas machen?" „Naja, du könntest ihn noch mehr verwirren, wenn du Caro hinterher rufst: 'Pass gut auf dich auf, Jessie!' , oder sowas in der Art", schlug ich vor. „Okay und wann machen wir es?" „Ich würde noch etwas warten", sagte Caro. „Warum?", fragte ich. „Wenn du schon hier bist, dann wollen wir wenigstens ein bisschen Spaß mit dir haben! Soweit es geht natürlich." „Na gut!", lachte ich. „Wir müssen bloß leise sein." Caro nickte und grinste fröhlich. Aurelia lächelte auch, obwohl sie ein wenig den Kopf schüttelte. Aber jetzt wo der Plan stand, waren wir einfach froh und glücklich.

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