#114 - Das endlose Flüstern

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Jegliches Zeitgefühl war verschwunden.

Es hätte Stunden, Tage, Wochen, aber auch Jahre vergehen können. Die Dunkelheit umfing mich wie ein Schleier und hütete mich. Der Schmerz war weg, sogar die Leere. Ich fühlte mich wie in einem Kokon, sicher und geborgen.

Meine Atmung war ruhig und gleichmäßig, als würde ich in einem sanften Schlaf liegen. Ab und zu hörte ich leise Stimmen, aber ehe ich mir sicher sein konnte, was sie sagten, waren sie schon wieder verschwunden und vergessen.

Die Stille war angenehm und ließ jede Sorge fortgehen. Zurück blieb nur der Frieden, den mir die Dunkelheit bereitete.

Irgendwann spürte ich, wie etwas über meine Arme strich. Die Berührung war so sanft und zärtlich, dass ich sie in vollen Zügen genoss und mich nicht bewegte.

»Ich weiß, dass du wach bist, Zoey«, wisperte Ryans Stimme in mein Ohr. »Du musst deine Augen öffnen...«

Ryan.

Dieser Name durchdrang den Kokon, den ich mir so sorgfältig aufgebaut hatte und ließ mein Herz gefrieren. Der Schleier um mich herum zerfiel und der Kokon brach.

Ich wollte die Augen öffnen, aber ich konnte nicht. Die Angst vor der Realität war so heftig, dass ich meine Augen fest zusammenkniff. Natürlich war es kindisch, aber ich konnte nicht mehr logisch denken.

»Bitte mach die Augen auf, Zoey«, wiederholte eine andere, fachliche klingende Stimme.

Sofort wusste ich, dass es Dr. Mason war, der mit mir gesprochen hatte und nicht Ryan.

Langsam bekam ich wieder ein Gefühl für meinen Körper. Die Taubheit wich und plötzlich spürte ich meine Arme, meine Beine und auch etwas weiches unter meinem Körper.

Meine Kehle brannte, genau wie meine Augen. Mein Herz fühlte sich an, als würde es drei Tonnen wiegen.

»Ich habe Angst«, kam es mir schließlich heiser über die Lippen. Meine Stimme klang schwach. »Ich habe Angst, dass wenn ich die Augen öffne, sehe, dass das alles kein Albtraum war...«

»Ich weiß, dass es schwer ist«, sagte Dr. Masons ruhige Stimme über mir. »Aber du musst stark sein... nur so kannst du ohne ihn weiterleben.«

Kaum sprach er seinen letzten Satz zu Ende, schossen mir Tränen in die Augen. Aber er hatte recht, das hier konnte nicht ewig so weitergehen. Ich öffnete meine Augen schweren Herzens und blinzelte mehrmals, weil alles verschwommen war.

Die letzten Stunden waren an mir vorbeigezogen. Als ich ohnmächtig geworden bin, war ich wenig später in einem Flugzeug erwacht. Die Schmerzen hatten da nicht aufgehört, aber ich war auch nicht bei vollem Bewusstsein gewesen. Hayden hatte Befehle geschrien, alles war ein einziges Chaos gewesen. In mir hatte alles gebrannt, endlich lange Stunden.

Irgendwie hatte mein Körper sich dann in einen Zustand mit dem Kokon befördert, der mich vor jeglichen Schmerzen fern hielt, bis mein Körper im Stande war, sich selbst dafür zu schützen. Meine Kräfte hatte ich in der Pyramide viel zu oft unüberlegt benutzt und mich damit so sehr geschwächt, dass ich eigentlich längst hätte ohnmächtig sein sollen.

Ich wusste nicht, wieso ich so lange durchgehalten hatte. Vielleicht war es auch mein starker Wille gewesen, der mich dazu gebracht hatte, immer weiterzumachen.

Als sich meine Sicht nun langsam klärte, erblickte ich Dr. Masons besorgtes Gesicht, das über mir schwebte. Ich musterte ihn kurz und bemerkte, dass er einen weißen Kittel über einem Hemd und einer Jeans trug und ein Stethoskop. Sein dunkles Haar lag durcheinander auf seinem Kopf und er besaß tiefe Augenränder. Es sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.

Endless WhisperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt