1. Kapitel

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Grau. Hier ist alles grau. Die Häuser, die Briefkästen, sogar unsere Kleidung. Aber das mögen wir so. So sind wir. So sind wir zumindest erzogen worden. Die Einen mehr, die Anderen weniger. Aber wir sollen so sein. So unscheinbar. Wir sollen uns selbst vergessen und uns für andere Menschen aufopfern. Wir sind die Altruan.

Vor langer Zeit waren die Menschen in einen großen Krieg verwickelt. Dabei wurde fast die menschliche Rasse ausgerottet. Daraufhin wurden die fünf Fraktionen gebildet.

Die Fraktion der Ken sind die Leute, die die Unwissenheit für den Krieg und die Zerstörung verantwortlich machten. Sie sind die Wissenden. Sie stellen unsere Lehrer und Ärzte. Sie tragen immer Brillen und blaue Kleidung. Die Amite ist die Fraktion der Freundlichen und Friedfertigen. Sie machten damals den Hass und die Wut dafür verantwortlich. Deswegen sind sie besonders freundlich und versuchen alles unter den Teppich zu kehren. Sie tragen immer rote und gelbe Kleidung und sie leben auf Farmen außerhalb des Zauns, der unsere Stadt beschützt. Die Candor sind die Ehrlichen und Freimütigen. Sie sind unsere Richter und sagen immer ihre Meinung, ob es einem nun gefällt oder nicht. Für sie ist die Wahrheit immer schwarz und weiß und das zeigen sie an ihren Kleidungsfarben. Die Ferox sind die Furchtlosen. Sie sind so etwas wie die Polizei, denn sie sorgen für Ordnung und Frieden in der Stadt und sie bewachen den Zaun. Ihre Kleidung ist schwarz und sie tragen Tattoos und Piercings am ganzen Körper. Und dann sind da noch die Altruan. Sie sind die Selbstlosen und opfern sich für die anderen Leute auf. Das gesamte Auftreten ist unscheinbar. Es wird nur graue Kleidung getragen und die Frisuren sind alle recht streng und kurz.

Zu denen gehöre ich. Noch nicht vollständig, denn ich bin noch nicht bei der Zeremonie der Bestimmung gewesen und habe auch noch nicht meinen Eignungstest absolviert. Aber das werde ich bald tun. Auch wenn mir das Ergebnis schon von vorneherein bekannt ist.

Mein Vater weckt mich.

"Steh auf Tobias. Heute ist der große Tag."

Meine Knochen schmerzen und ich habe ein kleines Zittern in den Knien. Ich habe nicht gut geschlafen, aber ich weiß, dass ich mir das nicht anmerken lassen darf. Es wäre selbstsüchtig an mich zu denken. Ich warte noch bis mein Vater mein Zimmer verlassen hat. Dann stehe ich auf. Mein Zimmer ist hell. Ein großes Fenster ist neben meinem Bett. Ein kleiner Holzschrank steht daneben. Er ist schon sehr alt und ich frage mich immer wieder von neuem wie langer er wohl noch stehen mag. Gegenüber steht ein hölzerner Schreibtisch. Davor steht ein einfacher Holzstuhl. Nicht gerade sehr bequem, doch er erfüllt seinen Dienst. Daneben befindet sich eine kleine Kommode, in denen sich die einzigen Wertsachen befinden, die ich habe. Ich schließe schnell die Tür, die mein Vater offen stehen gelassen hat. Dann laufe ich barfuß zu der Kommode und öffne sie. Ganz oben liegt eine alte Patchworkdecke, ein Geschenk von meiner Mutter. Sie hat sie selbst gemacht bevor sie starb. Das war vor knapp fünf Jahren. Sie war eine schöne Frau. Jung und stark und voller Lebenslust. Das Begräbnis war eher langweilig. Viele Menschen kamen und drückten uns ihr Beileid aus und sagten tolle Dinge über sie. Sagten Sachen, bei denen ich nicht mehr wusste ob sie wirklich von meiner Mutter sprachen.

Unter der Decke befindet sich eine Zeichnung. Sie ist ein wenig zerknickt und knistert, als ich die Decke zur Seite schiebe und sie herausnehme. Ich habe sie wenige Tage vor ihrem Tod gemalt. Es ist eine schlechte Zeichnung, die nur schnell mit einem Stift auf den Rand eines Zettels gemalt worden war, aber trotzdem hänge ich an ihr. Vielleicht, weil das das einzige war, worauf man sie sah, denn wir haben keine Bilder. Bei den Altruan macht man keine Bilder, denn man soll sich mit nichts an sich erinnern.

Unter der Zeichnung liegt eine Zeitung. Sie umwickelt das kostbarste Geschenk, dass ich habe. Es ist eine kleine blaue Statue, die ich auch von meiner Mutter geschenkt bekam. Ich musste ihr damals hoch und heilig versprechen, dass ich sie gut verstecken werde. Das habe ich seit jenem Tag auch getan. Trotzdem öffne ich jeden Morgen die Kommode um mir diese Sachen anzusehen. Sie sollten mir nichts bedeuten. Dennoch tun sie das.

Ich mache mich möglichst schnell fertig und hoffe, dass mein Vater nicht merkt, dass ich mal wieder spät dran bin. Dann hat er nämlich immer schlechte Laune und wozu die führt habe ich schon oft genug am eigenen Leib erfahren. Als ich die Treppe herunterkomme, merke ich, wie er mich ansieht. Er zieht eine Augenbraue hoch und ich setze mich ihm gegenüber. Zögernd beiße ich in das Brot, dass er mir zum Frühstück gemacht hat.

"Weißt du alles, was ich dir gesagt habe?", fragt er. Ich nicke nur, denn wir sollen am Tisch eigentlich nicht reden sondern nur unseren Eltern zuhören. Aber seit dem Tod meiner Mutter hat mein Vater eigentlich keinen mehr zum Reden. Deswegen verbringen wir die meisten Mahlzeiten schweigend.

Er sieht mich an. Dann fragt er: "Was wirst du bei deinem Test tun?"

"Ich werde allein in einem Raum sein. Dann wird man mir einen Käse und ein Messer zeigen, zwischen denen ich mich entscheiden soll. Ich werde den Käse nehmen. Danach werde ich ein armes Mädchen sehen, dass mich um den Käse bittet, weil sie doch so einen Hunger habe. Daraufhin werde ich ihr den Käse geben. Wenn sie sich umdreht und weggeht wird ein großer Hund kommen, der versucht das Mädchen anzugreifen. Ich werde mich auf ihn werfen, um das Mädchen zu beschützen.", antworte ich.

"Was machst du, wenn der Tester dich fragt, ob dir bei der Simulation bewusst war, dass dies nicht die Realität ist?"

"Ich werde sagen, dass mir das nicht klar war."

Er sieht mich zufrieden an. Er hat also einen guten Tag.

"Aber was ist, wenn mir das wirklich nicht bewusst ist, wie ich handeln soll? Oder wenn ich eigentlich gar nicht so handeln möchte?", frage ich zurück. Erst als ich den Schlag seiner Hand auf meiner Wange spüre, wird mir klar, dass dies die falsche Frage war.

"Du bist mein Sohn. Ich weiß, dass du so handeln wirst! Und jetzt geh zur Schule.", knurrt er und ich stehe schleunigst auf, um fluchtartig das Haus zu verlassen. Vielleicht hat er doch keinen guten Tag.

Im Bus stinkt es nach Abgasen. Es ist mal wieder sehr voll und der Bus holpert über die rissige Straße. Mir tun langsam die Beine weh und ich frage mich, warum ich meinen Sitzplatz jemand anderen angeboten habe. Weil mein Vater es so gewollt hätte.

Ich bin nervös. Ich weiß nicht, wie ich den Eignungstest überleben soll. Der Eignungstest soll mir sagen, zu welcher Fraktion ich am besten gehöre. Doch ich weiß es schon. Altruan. Mein Vater gehört zu den Leuten in der Regierung und ist einer der höchsten Männer. Deswegen weiß er, wie die Simulationen im Eignungstest aufgebaut sind und deshalb konnte er mir sagen, wie ich zu handeln habe, damit ich zu den Altruan gehören würde. Ich möchte aber eigentlich nicht hierher gehören. Ich bin nicht selbstlos, aber ich kann auch nicht zu meinen Vater gehen und ihm dies sagen. Das würden nur Ärger geben.

Ich gehe den Gang der Schule entlang. Sie besteht aus drei Gebäuden. Dem Oberstufen, -Mittelstufen- und dem Unterstufengebäude. Heute werde ich wahrscheinlich zum letzten Mal durch diese Gänge laufen. Ab der Zeremonie der Bestimmung, bei der ich meine zukünftige Fraktion wählen werde, wird meine Fraktion meine Ausbildung fortsetzen. Ich stehe am Fenster und schaue auf den Schulhof hinaus. Es ist 7:25. Exakt um diese Uhrzeit kommt der Zug an. Niemand fährt Zug, abgesehen von den Ferox. Aber der Zug hält nicht, sondern verlangsamt nur sein Tempo, die Türen sind geöffnet. Dann beginnen sie herauszuspringen. Einige rollen sich auf der Erde ab, andere laufen ein paar Schritte weiter um den Schwung abzufangen. Ich bewundere die Ferox. Sie sind mutig, frei und furchtlos. Das wäre ich auch gerne. Dann könnte ich meinem Vater so richtig die Meinung sagen. Aber das kann ich nicht. Das gehört sich nicht für einen Altruan. Wir wollen niemanden verletzen.

Ich muss in die Klasse gehen, sonst verpasse ich den Anfang der Stunde. Heute geht der Unterricht nur halb so lange, damit wir noch einmal jedes Fach haben können.

"Platz da, Stiff!", ruft jemand und rempelt mich an. Stiff ist eine fiese Beleidigung für die Altruan. Ich koche innerlich vor Wut, gebe aber dennoch keine Widerworte von mir. Das gehört sich nicht für einen Altruan. Ich bin selbstlos. Dann gehe ich ins Klassenzimmer.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt