1 - Träume

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Warum träumen wir? Das Gehirn verfestigt Sachen, die wir tagsüber gelernt und erlebt haben. Es mischt alte Informationen mit neuen. Man bearbeitet Themen, die einen beschäftigen und versucht eine Lösung zu finden. Träume bereiten einen auf Situationen vor und trainieren unsere praktischen Fähigkeiten, die wir später einmal brauchen könnten.
Wir lernen mit Angstsituationen umzugehen, eine positive Seite der Alpträume. Immer, wenn man tagsüber eine brenzlige Situation erlebt, verfestigt man im Traum das Wissen, um nächstes Mal diese gefährliche Lage zu umgehen.
Ich öffne die Augen, starre an die Decke und sehe im Augenwinkel schon die grelle Sonne hinter den Vorhängen.
„Oder man träumt, um der Realität zu entfliehen", flüstere ich mir selbst zu, schwinge die nackten Beine über den Bettrand und laufe zur Tür, die in den Gang führt.
„Guten Morgen, bist du bereit?", fragt mein Vater sichtlich erschöpft mit schweißnassen braunen Haaren, während er einen weiteren Umzugskarton an meinem Zimmer vorbei trägt.
Im Türrahmen stehend drehe ich mich um und realisiere erst jetzt wieder mein Zimmer, das einer Baustelle gleicht. Kartons, Klamotten überall, offene Schubladen und abgehängte Bilder.
„Guten Morgen", rufe ich ihm noch hinterher, aber er hat es vermutlich nicht mehr gehört.
Mit einem Gähnen stelle ich mich wieder neben mein Bett und sehe aus meinem Fenster, das zur Häfte von weißen Vorhängen bedeckt ist. Die Bäume wiegen sich im Wind hin und her, die hellgrünen Blätter werden von der Sonne angestrahlt und eine Frau sitzt unter dem blauen Himmel lesend auf einer Bank. Schönes Wetter für einen schönen Abschied.
„Alles klar?" Ich schrecke kurz zusammen und entdecke Noel, der mit zerzausten Haaren am Türrahmen lehnt. Unsicher zucke ich mit den Schultern.
„Ich bin unglaublich froh hier wegzugehen, aber es ist trotzdem irgendwie seltsam. Ich habe hier 19 Jahre verbracht, alles, an was ich mich aus meinem Leben erinnern kann, egal, ob Gutes oder Schlechtes, hat in dieser Stadt stattgefunden."
Mein Bruder seufzt. „Wenn wir erstmal da sind, wirst du dich bestimmt schnell einleben. Als hättest du niemals wo anders gelebt."
Ich verstehe, was er mir damit sagen will. Ich würde in unserem neuen zu Hause alles vergessen, von neu beginnen, aber so einfach ist das nicht.
„Warum sind deine ganzen Kartons noch leer?", fragt er mit gerunzelter Stirn und hält den Karton neben der Tür auf.
Mit drei Schritten bin ich bei meiner Kommode und halte eine kleine Kiste hoch, in der ich die wichtigsten Sachen verstaut habe.
„Das ist alles, was ich mitnehmen möchte. Wenn ich mich wirklich von dieser Stadt, diesem Haus und diesen Erinnerungen trennen möchte, muss ich mich auch von diesen Sachen trennen. Ein paar Klamotten sind schon im neuen Haus, alles andere bleibt hier."
Noel nickt verständnisvoll und lässt mich allein, nachdem mein Vater ihn gerufen hat, um zu helfen. 

Felder, Bäume und Häuser ziehen an mir vorbei und bleiben dort zurück, wo ich nie wieder hin will. Bleiben dort, wo ich die schlimmsten Monate meines Lebens verbracht habe.
Der Abschied fällt mir leicht und schwer zugleich. Ich bin froh, den Schmerz zurückzulassen, mich von all dem zu trennen, was mich an die Leute erinnert, die der Tod mir genommen hat. Dennoch habe ich das Gefühl, beide zu vergessen, die Erinnerungen an sie zu vergessen, wenn ich nicht jeden Tag von der Umgebung konfrontiert werde, in der sie auch gelebt haben.
Wenn ich nicht mehr in dem Bett schlafe, auf dem Milan mich ständig gekitzelt hat. Wenn ich nicht mehr in der Küche sitze, in der meine Mutter immer gekocht hat und wenn ich nicht mehr auf die Schule gehe, in der er ständig neben mir gesessen ist.
Die Gräber zurückzulassen spielt keine Rolle für mich. Die beiden sind weg. Nicht im Himmel, nicht in den Gräbern, nicht sonst wo. Sie sind nirgends mehr, wie vom Erdboden verschluckt. Von der unendlichen Schwärze verschluckt.
Selbst, als ich mit meiner kleinen Kiste im Gang des neuen Hauses stehe, fühle ich mich, als wären wir bloß im Urlaub. Nur zu Besuch und bald gehen wir wieder zurück nach Hause.
Das Haus liegt in einer ruhigeren Gegend in Berlin, dennoch relativ zentral. Mein Zimmer liegt im zweiten Stock, neben dem meines Bruders und meines Vaters. Unten ist die offene Küche, das Wohnzimmer und Esszimmer. Alles in einem ein schönes Haus, aber ich werde eine Weile brauchen, mich einzuleben. Mich wohl zu fühlen, wobei ich das im alten Haus auch schon lange nicht mehr habe.
Etwas verloren stehe ich in meinem kleinen Zimmer, das mit einem ebenso kleinen Balkon verbunden ist. Nachdem ich die Kiste meiner Mutter auf das weiße Bettlaken gestellt habe, öffne ich geräuschvoll die Balkontür und halte mich an dem feinen, weißen Geländer fest. Mein Blick streift an all den Häusern vorbei, den Bäumen und dem Park, der von hieraus sichtbar ist.
Übermorgen beginnt das erste Semester an der Universität, es beginnt ein neues Kapitel. Ein neues Kapitel, ohne die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ohne die, die ich nun am meisten gebraucht hätte.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt