5 - Spiel

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Mit einem etwas komischen Gefühl im Magen laufe ich in Richtung Kursraum. Ich bin heute genau eine Woche hier und habe schon über den dunkelsten Punkt meines Lebens gesprochen, oder zumindest über einen von zwei. Milans Tod ist nun das einzige, was ich noch nicht ausgeplaudert habe.
Im Gang läuft mir Noella mit einem schwarzhaarigen Mädchen entgegen und winkt mir lächelnd im Vorbeigehen. Auch ich zwinge mir ein Lächeln auf und laufe dann mit verschränkten Armen weiter.
Sie war das Wochenende über zu Hause, weswegen ich meinen Sonntag gestern allein im Zimmer, zusammen mit einem Horrorfilm und Chips verbracht habe.
Tatsächlich habe ich auch meinen Vater angerufen. Ursprünglich habe ich ein langes Gespräch erwartet, aber nach drei Minuten haben wir schon wieder aufgelegt.
Allerdings könnte das auch daran liegen, dass ich nicht mit ihm darüber gesprochen habe, weshalb ich mich so verhalte. Stattdessen habe ich ihm nur ein wenig von der Zeit hier bisher berichtet.
Eigentlich wollte ich ihn fragen, ob er weiß was mit Noel los ist, aber ich konnte einfach nicht länger mit ihm sprechen. 
„Guten Morgen, Alva", ruft Elijah als ich den Saal betrete und auch ich begrüße die Jungs mit einem einfachen Handschlag, der schon innerhalb einer Woche zu unserem morgentlichen Ritual wurde.
Als ich bei Kilian angelange, vermeide ich den Augenkontakt. 
„Können wir kurz unter vier Augen sprechen?" Um sicher zu gehen, dass er wirklich mit mir spricht, hebe ich den Kopf und tatsächlich sieht mich ein braunes Augenpaar an. 
„Natürlich", antworte ich etwas zögerlich und folge ihm nach draußen. Nach unserer Umarmung gestern haben wir beschlossen nach Hause zu gehen und uns ein Taxi gerufen.
Die Mischung aus Alkohol und Tränen hat uns beiden nicht gut getan, weswegen wir so schnell wie möglich weg wollten und Kilian Luan bloß eine kurze Nachricht gesendet hat, dass wir gegangen sind.
Bis jetzt haben Elijah und Luan zum Glück nicht nachgefragt, warum wir so schnell und ohne uns richtig zu verabschieden gegangen sind. Zumindest haben sie nicht mich darauf angesprochen.
Etwas nervös stelle ich mich vor dem Raum neben ihn. 
„Kannst du das für dich behalten?", fragen wir beide gleichzeitig und schmunzeln kurz darüber. „Pass auf", beginne ich meine Erklärung. „Ich war gestern vielleicht etwas durcheinander und zusammen mit dem Alkohol sehr gesprächig. Ich denke dir geht es da ähnlich." Unsicher, wie ich mich ausdrücken soll, verlagere ich das Gewicht von meinem rechten Bein auf das linke und wieder zurück. „Du hast Recht, wir behalten das einfach für uns, in Ordnung?" Als Antwort nicke ich bloß, denn Kilian scheint auch nicht so genau zu wissen wie er sich formulieren soll. Die Professorin unterbricht unsere unangenehme Unterhaltung und ich drehe mich von Kilian weg, um ihr in den Raum zu folgen. „Gehen wir morgen Abend trotzdem was essen?" Überrascht drehe ich mich wieder zu ihm, während er immer noch an der Wand lehnt und leicht lächelt. Nachdem ich ihn einige Momente bloß mit leicht geöffnetem Mund angesehen habe, schleicht sich auch auf meine Lippen ein dezentes Grinsen. „Ist das etwa ein Date?" Kilian lacht kurz auf und stoßt sich von der Wand ab. „Eher eine Chance diese unangenehme Spannung zwischen uns wieder zu begraben." Damit läuft er grinsend an mir vorbei in den Raum und lässt mich lachend zurück.

 „Alles okay bei dir?" Mit zusammengezogenen Augenbrauen kommt Kilian mir entgegen, als ich mit wütendem Blick auf ihn zu laufe.
Für unser Date, oder wie er es nennt, für die Chance die unangenehme Stimmung zu begraben, haben wir beschlossen uns in einem Park zu treffen.
Tatsächlich ist er genau so schön, wie er ihn mir beschrieben hat, allerdings bekomme ich nicht all zu viel von meiner Umgebung mit, da ich stinksauer bin. „Ich weiß echt nicht, was mit Noel los ist!"
Erschöpft, wütend und verzweifelt zugleich setze ich mich auf die Bank, auf der er gerade noch gesessen ist und fahre mir über das Gesicht.
Kilian, Elijah und Luan haben Noel schon öfter gesehen, nachdem ich ihn ihnen gezeigt habe, wer mein kleiner Bruder ist, aber gesprochen haben sie nie miteinander.
Es ist nicht so, dass die Jungs das nicht wollen, im Gegenteil, aber Noel ist alles andere als interessiert daran meine Freunde kennenzulernen. 
„Ein toller Start für unser Treffen, entschuldige", meine ich mit einem schlechten Gewissen und er setzt sich mit der Aufforderung, ich solle alles erzählen, wieder auf die Holzbank. 
„Seit wir in Berlin sind, dreht er total ab. Ich weiß überhaupt nicht, was ich falsch gemacht habe oder warum er sich auf einmal so benimmt."
Etwas beruhigt schaue ich auf den kleinen See vor uns und beobachte ein paar Blätter der leicht verfärbten Bäume, wie sie sanft auf der Wasseroberfläche landen, als mir bewusst wird, dass ich wohl etwas weiter ausholen muss. Eigentlich wollte ich nicht mehr über dieses Thema sprechen, aber es scheint so, als würde alles irgendwie mit dem Tod meiner Mutter und dem von Milan zutun haben. 
„Nach dem Tod meiner Mutter war er, im Gegensatz zu mir, immer derjenige, der versucht hat normal weiterzuleben. Natürlich war er ebenso erschüttert wie ich, aber wir sind komplett anders mit dem Verlust umgegangen.
Während ich mich von allen abgeschottet habe, hat er komplett das Gegenteil gemacht und extrem viel Wert darauf gelegt, ständig bei Freunden zu sein. Er hat weiter gemacht wie vorher, er war immer so positiv.
Ohne ihn wäre es mir bei weitem noch schlimmer ergangen. Er war immer ruhig, ist nie zusammengebrochen, hat sich nie in seinem Zimmer verschanzt. Das ganze Jahr nicht.
Noch vor einer Woche, am ersten Tag an der Uni, hat er mir Mut zugesprochen und mich überzeugt, dass es mir hier schon bald besser gehen wird."
Dabei verschweige ich, dass es mir aus dem Grund auch bei weitem schlechter ging, weil kurz zuvor mein Freund verstorben ist.
Mein Blick ruht auf meinen Händen und ich versuche Kilians auszuweichen. „Und gerade, als es mir tatsächlich ein bisschen besser geht, fängt er mit diesem seltsamen Verhalten an.
Er spricht kaum mit mir und wenn, dann macht er mich dumm an, schreit grundlos oder wirft mir verletzende Dinge an den Kopf, die mich teilweise einfach nur schockieren.
Mein Vater hat mir sogar geschrieben, dass er seine Anrufe und Nachrichten ignoriert, seit Noel ihm geschrieben hat, dass mein Vater den Rest der Familie zerstört, ohne einen Grund hinzuzufügen."
Es jetzt so auszusprechen tut noch mehr weh, als ich dachte. Noel war in meiner schlimmsten Zeit meine größte Hilfe und jetzt, wo er anscheinend in diese Phase kommt, weiß ich überhaupt nicht wie ich diesmal eine Hilfe sein kann.
„Ich glaube inzwischen, dass er die ganze Zeit über eine tickende Zeitbombe war und sich die Zündschnur mit dem Umzug hier her entzündet hat und ich will gar nicht wissen was er tut, wenn er explodiert." Das erste Mal seit Minuten erwidere ich seinen Blick und bereue es sofort wieder.
Ich kann den Blick nicht ganz deuten, aber er bestätigt mir, dass das hier die Realität ist und bringt mich noch näher an die Tränen. 
„Nach dem, was ich gehört habe, muss ich dir Recht geben. Sei für ihn da und sei ehrlich mit ihm.
Du musst versuchen ihn unter Kontrolle zu halten und ihn nichts dummes machen zu lassen, was er später mal bereuen wird. Menschen sind zu vielem fähig, wenn sie wütend und enttäuscht vom Leben sind."
Nun ist es Kilian, der auf den See sieht und ich diejenige, die ihn anschaut. Irgendwas sagt mir, dass er sehr genau weiß von was er da spricht und selbst so war, als seine Schwester starb.
Ein kühler Wind weht mir die Haare ins Gesicht und ich ziehe meine Jacke enger zu. Die kalten Tage machen mir jetzt schon zu schaffen. 
„Ich merke schon, dass wir uns sehr gut an Abmachungen halten können." Seinen ironischen Ton unterstützt er mit einem Grinsen und spielt auf unsere Unterhaltung an, dass wir das für uns behalten würden, nicht darüber sprechen und es am besten gar nicht erst erzählt hätten.
Ich erwidere sein Lächeln und lache kurz in mich hinein. „Normalerweise ist das das letzte Thema über das ich mit jemandem reden würde und wir lernen uns mit solchen Themen kennen." Kilian dreht sich nun auch ganz zu mir und stützt einen Arm auf der Rückenlehne der Bank.
„Vielleicht ist das aber gar nicht so schlecht direkt mit offenen Karten zu spielen. Vielleicht muss man sich einfach manchmal von Anfang an von seiner verletzlichsten Seite zeigen, um Vertrauen richtig aufbauen zu können." Vielleicht hat er Recht und vielleicht werde ich belohnt für das Spiel mit den offenen Karten, aber vielleicht werden sie mir dann doch abgenommen um sie im Spiel gegen mich zu verwenden. 



Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt