Die Zeit vergeht wie im Flug und ich habe schon bald die erste Woche hinter mir. Es ist lange her, dass ich mir dachte, wie schnell die Tage doch vorbeigegangen sind.
Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich so viel mehr zutun habe. Eigentlich hatte ich in meiner alten Heimat, in meiner alten Schule, viel mehr Aufgaben zu erledigen, aber wenn man mit dem Kopf nicht bei der Sache ist, erscheint es einem so, als hätte man nichts zutun.
Auch wenn es bisher bloß das Auspacken, meine Leidenschaft für das Bücher schreiben und ein paar Dinge für die Kurse waren, die ich erledigt habe, war ich mit voller Aufmerksamkeit dabei, was dennoch nicht heißt, dass alles geklappt hat. Seit Monaten habe ich nicht mehr geschrieben, seit dem Tod von meiner Mutter und Milan. Ich habe so viele Ideen, doch die Seite auf meinem Laptop bleibt immer leer, bis ich es dann zur Seite lege.
Es fiel mir unglaublich schwer, mal eine Woche zu versuchen, ganz normal zu leben und so gut das auch getan hat, ich werde in der Zukunft nicht mehr die Kraft dazu haben, krampfhaft nicht an alles zu denken.
Seufzend schlage ich das Mathebuch zu und schaue, im Schneidersitz auf meinem Bett, aus dem Fenster.
Noella ist, wie die meiste Zeit, nicht im Zimmer, was aber auch kein Problem für mich darstellt. Sie ist unglaublich nett und hilfsbereit, wir haben ein paar mal zusammen gegessen und sitzen in einigen Kursen nebeneinander, aber ich bin trotzdem auch gerne mal ohne Gesellschaft.
Ich war schon immer jemand, der gerne allein ist. Die Ruhe, den Gedanken und der Fantasie freien Lauf lassen, wobei ich seit einem Jahr darauf verzichten könnte.
Mit Kopfhörern stehe ich auf und trete an das große Fenster.
Tatsächlich habe ich gefühlt mehr Zeit auf der Bank vor dem Brunnen verbracht, als in diesem Zimmer, doch heute ist es zu kalt. Die kühlen Tage werden bald kommen und dann ist der Herbst auch nicht mehr weit entfernt. Aufgrund dieser Tatsache könnte ich erneut seufzen.
Als plötzlich ein lautes Schlagzeugsolo aus meinen Kopfhörern dringt, zucke ich zusammen und nehme sie mir aus den Ohren, bevor ich das Lied pausiere. In dem Moment klopft es und ich laufe gespannt zur Tür, da ich niemanden erwarte.
„Noel." Überrascht lege ich den Kopf schief, nachdem ich die Tür geöffnet habe und mein Bruder im Rahmen lehnt.
„Alles klar? Ist was passiert?"
„Wieso bist du immer so panisch, nur weil ich vor deinem Zimmer stehe?", antwortet er mit einer Gegenfrage und spaziert an mir vorbei. „Ich weiß nicht", sage ich leise und bleibe vor meinem Bett stehen, auf dem er nun sitzt. "Wahrscheinlich, weil als ich das letzte Mal, vor einem Jahr, als ich vor deiner Tür stand, dir gesagt habe, dass unsere Mutter tot ist." Völlig perplex sehe ich ihn mit leicht geöffnetem Mund an.
„Wie bitte?" Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Stattdessen sehe ich ihn schockiert und verwirrt zugleich an. „Bist du gekommen, um mir das zu sagen, oder was?" Noel schüttelt den Kopf, steht auf und läuft an mir vorbei zur Tür. „Vergiss es, tut mir leid." Damit verschwindet er aus meinem Zimmer und die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Somit werde ich wahrscheinlich nie erfahren, was er wirklich wollte, aber hoffentlich weiß ich bald, was in letzter Zeit mit ihm los ist.Ich laufe über den inzwischen leeren Campus, was wahrscheinlich daran liegt, dass es Wochenende ist und das keiner hier verbringt, oder alle gehen Samstagabend was trinken, so wie ich jetzt.
„Los geht's!", ruft Luan euphorisch, als er mich entdeckt hat und setzte sich auf den Beifahrersitz, nachdem er seine Zigarette auf dem Teer zertreten. „Du Gentleman, lass sie doch vorne sitzen", meint Elijah und schließt die Autotür des Fahrersitzes, nachdem er sich reingesetzt hat. Luan wirft mir durch das offene Fenster einen Dackelblick zu, worauf ich bloß lache und mich auf die Rückbank setze. „Ich liebe dich, Alva."
Während ich weiterhin über Luan und seine Freude, vorne zu sitzen, grinse, erklärt Elijah mir, was wir zuerst noch erledigen müssen. „Kilian musste kurzfristig zu seinen Eltern fahren, aber sie wohnen in der Nähe, wir holen ihn dort ab." Als Zustimmung nicke ich nur und tatsächlich bleiben wir kurze Zeit später vor einem Einfamilienhaus stehen.
Nach einem kurzen Telefonat zwischen Luan und Kilian kommt dieser aus dem Haus und setzt sich mit einer Begrüßung neben mich.
Mit einem leichten Lächeln sehe ich die Jungs an, während sie sich wieder über das Mädchen unterhalten, mit dem Luan sich schon öfter getroffen hat, aber ich höre nicht genau zu. Ich bin so froh, dass ich sie getroffen habe, oder eher, dass Elijah einfach auf mich zu kam und mir geholfen hat.
Bei meiner eher ruhigen nicht sehr aufgeschlossenen Art hätte ich wahrscheinlich nie jemanden kennengelernt.
Die letzte Woche habe ich oft Zeit mit ihnen verbracht und ich habe wirklich das Gefühl, dass das eine langfristige Freundschaft werden kann.
„Alva?" Kilian weckt mich aus meinem Tagtraum und wir steigen als letztes aus, nachdem ich gesehen habe, dass wir schon angekommen sind. Inzwischen ist die Sonne komplett unter gegangen und die leuchtende Schrift des Namens der Bar ist das einzige, was hier wirklich Licht spendet.
Sie scheint schon gut besucht zu sein, da wir einen der letzten Parkplätze ergattert haben. Als wir jedoch rein gehen, ist es gar nicht so voll, wie erwartet, oder es liegt an der Größe der Bar, weswegen sich die Leute gut verteilen.
„Ich glaube, die anderen sind schon da", vermutet Elijah und läuft in eine der Ecken, in der ein großes Fass als Tisch dient und an dem schon ein Mädchen und zwei Jungs sitzen. Die beiden Unbekannten begrüßen mich mit einer Umarmung und stellen sich als Lukas, Finn und Lara vor.
Schon nach wenigen Momenten wird mir klar, dass Lara und Finn ein Paar sind und ich meide es ihre Knutscherei mit anzusehen. Hätte ich mich bloß nicht ihnen gegenüber hingesetzt.
„Bleibst du bei einer Cola?" Luan sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an, nachdem wir alle unsere Bestellung aufgegeben haben.
„Wir werden nachher noch genügend Schnaps und anderes trinken, lass mir ein paar Minuten Ruhe mit meiner Cola", lache ich und ich sollte Recht behalten, denn zwei Stunden, vier Colas und einige Gespräche später beginnen wir mit dem ersten Schnaps.
„Das schmeckt so scheußlich, dass es wieder gut ist", meine ich mit verzogenem Gesicht und stelle das kleine leere Glas wieder auf den Tisch. „Allerdings, also können wir ja noch ein paar nehmen", wirft Elijah in die Runde und alle stimmen zu.
Er bestellt bei dem netten Kellner noch einmal sieben Stück und scheint jetzt schon etwas angetrunken zu sein, aber bis jetzt verstecken das alle hier sehr gut.
Schließlich bin ich auch die einzige, die bis jetzt bloß ein paar nicht alkoholische Getränke getrunken hat. „Das ist mein letzter", sage ich, bevor ich die brennende Flüssigkeit mit einem Mal trinke.
„Jetzt schon? Was ist denn los mit dir?" Luan scheint mir hier am meisten getrunken zu haben, oder am wenigsten zu vertragen, denn ich muss mich jetzt schon anstrengen, die Worte zu verstehen.
Als die nächste Runde kommt, muss ich mich beherrschen, nicht weiter zu trinken, weswegen ich beschließe, frische Luft schnappen zu gehen. So wirklich mitbekommen scheint das aber niemand, also nehme ich mir meinen schwarzen Pullover von der Garderobe, schlüpfe hinein und ziehe im Laufen den Reißverschluss zu.
Müde stoße ich die Eingangstür auf und ein kühler Wind bläst mir entgegen.
Mit einem Seufzen lasse ich mich wenige Meter neben der Bar, vor einem geschlossenen Drogeriemarkt, fallen. Im selben Moment öffnet sich die Tür der Bar erneut und Kilian kommt in seiner Jeansjacke raus.
Nach wenigen Momenten hat er mich entdeckt, kommt auf mich zu und setzt sich neben mich.
„Alles klar bei dir?" Als Antwort nicke ich bloß und hätte am liebsten losgeheult. Manchmal kann ich es einfach nicht kontrollieren, wann mich Wut, Trauer oder Enttäuschung überfällt und ich bin dann meistens nicht in der Lage, Tränen zu unterdrücken.
Mein Handy vibriert im richtigen Moment in meiner Hosentasche und ich lenke mich von meinen kommenden Tränen ab, doch als ich den Namen meines Vaters auf dem Display sehe, macht es alles nur noch schlimmer.
Ich drücke ihn weg, verstaue das Smartphone wieder in meiner Hosentasche und fahre mir über das Gesicht.
„Wer war das?" „Mein Vater. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, seit ich hier bin", erkläre ich Kilian aufgrund seiner Frage und schaue in den bewölkten Himmel, weswegen keine Sterne zu sehen sind.
„Ich möchte Abstand zu ihm nehmen und da ist die Uni schon mal ein guter Schritt, aber ich bekomme es auch nicht übers Herz, mit ihm zu sprechen." Der Alkohol tut mir wirklich nicht gut, das merke ich schon wieder an meinen unkontrollierbaren Gefühlen, die jetzt vom Alkohol verstärkt wurden.
Während ich also weiter gegen meine Tränen ankämpfe, dreht sich Kilian seufzend zu mir und sitzt nun seitlich auf der Holzbank.
„Das kenne ich gut", meint er mit einem bitteren Unterton.
„Als meine kleine Schwester damals gestorben ist, konnte ich meine Eltern nicht mehr sehen. Sie haben mich allein schon mit ihrer Anwesenheit daran erinnert, dass etwas fehlt."
„Das mit dem Erinnern kenne ich gut, glaub mir. Ich habe jedes Mal das Gesicht meiner Mutter im Kopf, wenn ich meinen Vater sehe." Ohne es sagen zu müssen, kann er sich denken, dass sie von uns gegangen ist.
Ich ziehe meine Knie ran, stütze meinen Kopf auf ihnen und sehe ihn an. Das Licht der Bar beleuchtet schwach sein Gesicht. Die schwarzen ungemachten Haare fallen ihm in die Stirn, der Blick ist auf die Gebäude uns gegenüber gerichtet. Kilian und ich haben bis jetzt noch nicht so wirklich viel miteinander gesprochen, erst recht nicht über solche Themen.
„Lustig, dass Alkohol einen immer dazu bringt, Geschichten aus unserem Leben zu erzählen." Er grinst über diese Aussage und erwidert meinen Blick, als ich spreche.
„Ich denke, er nimmt uns einfach die Angst, den falschen Menschen zu vertrauen. Die Angst, dass diese Geschichten irgendwann gegen einen selbst verwendet werden."
„Da hast du Recht", bestätigt er meine Vermutung nach einer kurzen Pause und keiner von uns unterbricht den Blickkontakt, bis ich eine Frage stelle und dabei wegsehe.
„Wie hast du es wieder geschafft, sie jemals wieder anzusehen?", will ich wissen und frage mich, wie ich selbst es jemals wieder machen will. Doch am meisten Angst habe ich davor, dass mit Noel das gleiche geschieht und ich ihn irgendwann nicht mehr ansehen kann. Das würde mein Herz einmal zu viel brechen.
„Ich habe Zeit vergehen lassen, in der ich keinen von beiden gesehen habe. Ich habe sogar sehr viel Zeit vergehen lassen."
„Zeit heilt alle Wunden, was?", meine ich ironisch und lache bitter in mich hinein.
„Zeit nimmt dir die Erinnerungen an die Details. Irgendwann kannst du dich nicht mehr an die genaue Haarfarbe erinnern oder an die Art, wie sie über deinen Rücken gestrichen hat, wenn du traurig warst. Du vergisst, wie sie gerochen hat und wie ihre Schritte auf der Treppe klingen, an denen du immer erkennen konntest, ob sie gerade gekommen ist oder jemand anderes.
Du vergisst das Aussehen der Grübchen und den Lachfalten auf der Stirn, wenn sie wieder über etwas lachen musste. Du weißt nicht mehr, wie viele verschiedene Facetten ihre Stimme hatte, wie sie klang, wenn sie traurig war oder wie sie klang, wenn sie dir eine Neuigkeit erzählt und aus diesen Gründen vergisst du auch irgendwann wie schmerzvoll es war, als du es erfahren hast.
Als der Moment gekommen ist, den niemand jemals erleben will. Der Moment, wenn dein ganzer Körper wie taub ist, sich eine Gänsehaut bildet und alles in deinem Kopf zusammenfällt.
Es tut lange danach immer noch weh. So weh, dass du dir denkst, es war niemals schlimmer und kann niemals schlimmer sein, aber den Schmerz, den du in dem Moment gefühlt hast, in dem du verstehst, dass deine kleine Welt gerade zusammengebrochen ist, den kannst du nie wieder fühlen, aber der war der schlimmste."
Während mir eine Träne die Wange hinab läuft, schließe ich ihn in die Arme und lasse meine Augen zu.
„Hättest du vorher darüber nachgedacht und hättest du keinen Alkohol getrunken, hättest du mir das wahrscheinlich nicht jetzt erzählt, aber es ist bei mir sicher", flüstere ich mit brüchiger Stimme und er zieht mich als Antwort noch enger an sich.
DU LIEST GERADE
Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...