Wir müssen so viele Dinge machen, um zu beweisen, dass wir tüchtig sind. Doch es reicht einen Fehler zu begehen, um zu beweisen, dass wir nichts taugen. Vielleicht sind wir einfach zu streng mit anderen und vor allem mit uns selbst.
Ich betrachte den Abschnitt meines Buches für einige Sekunden.
Frischer Wind weht mir entgegen und mein Bick schweift von meinem Laptop weg zum Brunnen, an dem zwei braunhaarige Mädchen und Lorina lehnen und tuscheln. Tatsächlich habe ich sie seit dem Vorfall in der Cafeteria nicht mehr gesehen und Tristan seit dem nur noch allein.
Dass sie jetzt ein paar Meter weiter steht, lässt den großen Platz hier in der Universität auf einmal viel kleiner und bedrückender wirken.
Kopfschüttelnd wende ich meinen Blick wieder von ihr ab und frage mich, warum es mir so unangenehm ist sie zu sehen und platziere dann meinen Zeigefinger auf der Löschtaste, bevor Wort für Wort der eben geschriebenen Sätze verschwindet.„Hey." Mit einem unsicheren Ton lässt sich Kilian neben mir nieder.
Ich schließe meinen Laptop und drehe meinen Kopf zu ihm, während er seinen Blick leicht gesenkt hat.
„Alles klar bei dir?"
„Natürlich", antworte ich und lasse es absichtlich ironisch klingen, allerdings hätte er mir das wahrscheinlich auch so nicht geglaubt.
Er seufzt leise und erwidert nun meinen kühlen Blick.
„Hast du mit Noel geredet?"
Ich schüttle bloß den Kopf und ziehe meine Jeansjacke enger an mich, als ein kühler Wind durch meine Haare fegt.
„Alva, ich hoffe du weißt, dass du mit uns sprechen kannst. Jederzeit. Das mit deiner Mutter ist schwer für dich, dass kann ich wohl am Besten nachvollziehen, aber ich habe das Gefühl dein Neuanfang hier ..."
„Es gibt keinen Neuanfang, Kilian", falle ich ihm gereizt ins Wort.
„Du kannst noch so weit von deiner alten Heimat wegrennen wie du willst, du kannst jegliche Menschen aus deinem Leben hinter dir lassen, aber du wirst niemals neu anfangen können.
Der entscheidende Punkt ist nämlich, dass du dein Gehirn nicht auf Null setzen kannst.
Alles, was du erlebt hast, all deine Erfahrungen werden dich immer begleiten, egal wo du bist.
All die Jahre haben dich geprägt und verändert und das kannst du nicht ungeschehen machen."
Ich mache eine kurze Pause und beobachte einen Vogel, der auf dem hellen Stein des Brunnens landet und sich umsieht, bevor ich wieder Kilian anschaue.
„Sieh mich doch an. Ich bin hier, am anderen Ende Deutschlands, habe so gut wie nichts mitgenommen, habe meine alten Freunde von mir gestoßen und dennoch bin ich dieselbe.
Dennoch ist der Schmerz immer noch da und dennoch bin ich nicht plötzlich der glücklichste Mensch auf Erden."
Mit diesen Worten erhebe ich mich von der Bank, schiebe meinen Laptop in meine Handtasche und bewege mich in Richtung Hauptgebäude, um nicht zu spät zum nächsten Kurs zu kommen.
Hinter mir nehme ich ein Seufzen wahr und höre kurze, schnelle Schritte.
„Alva, warte!"
Etwas widerwillig bleibe ich stehen und drehe mich zu Kilian um, der mit einem leicht verzweifelten Blick vor mir stehen bleibt.
„Hör auf mich so anzusehen!", rufe ich gereizt und entdecke augenblicklich die Überforderung in seinen braunen Augen.
„Ich bin nicht die überglückliche Alva, die ich vielleicht in den ersten paar Tagen ausgestrahlt habe.
Das hier bin ich, und wenn du mich dabei jedes Mal so ansiehst, als wäre ich ein verletzter Welpe, machst du es weder für dich, noch für mich leichter!"
Über meinen eigentlich nicht beabsichtigt bösen Ton mache ich mir nicht lange Gedanken.
Stattdessen stampfe ich geradewegs an meinem eigentlichen Ziel, dem Haupteingang, vorbei und steuere auf den Parkplatz zu.
„Alva!"
„Lass mich in Ruhe!", schreie ich, ohne mich umzudrehen und beschleunige meine Schritte, während ich versuche meinen Schlüssel aus meiner Handtasche zu kramen.
Die Mehrzahl der Studenten, die sich im Umkreis des Brunnens aufgehalten haben, sind schon außer Sichtweite.
„Dieser scheiß Schlüssel!" Meine Wut übernimmt langsam aber sicher die Überhand und mir steigen Tränen in die Augen, während meine Hände immer mehr zu zittern beginnen.
Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und mein Sichtfeld wird von Sekunde zu Sekunde verschwommener.
„Wo ist der beschissene Schlüssel!" Mein Ausruf wird von meinem Schluchzen übertönt und ich stütze mich an meinem Auto ab, als meine Knie nachgeben.
Bevor ich komplett zusammenbrechen kann, stützen mich zwei Arme und ich klammere mich an Kilian, nachdem ich meine Tasche fallen gelassen habe.
„Hey, hey. Ganz ruhig." Ich antworte nichts auf seinen Versuch mich zu beruhigen, stattdessen schlinge ich meine Arme enger um seinen Hals und weine einfach weiter.
Weine und weine, als würde es etwas bringen. Als würde es mir bei irgendetwas von den etlichen Dingen helfen, die mich hier her gebracht haben.
Die Schuld daran sind, dass ich hier, am anderen Ende Deutschlands, in den Armen eines Jungen liege und weine, als würde es kein Morgen geben.
„Was ist denn los?" Mit besorgtem Blick sieht er mir entgegen, als ich mich von ihm löse und nach meiner Tasche greife.
Auf der einen Seite frage ich mich, was das für eine dumme Frage ist, auf der anderen Seite weiß ich die Antwort selbst nicht.
Irgendwann kam der Zeitpunkt in meinem Leben, an dem ich keine konkreten Günde mehr gebraucht habe um zu weinen.
„Vergiss es", murmle ich letztendlich und hoffe, dass ich selbst alles vergessen könnte.
Und als mein Blick auf Lorinas trifft, die nicht einmal zehn Meter weiter läuft und mich mit diesem einen Blick ansieht, weiß ich, warum ihre Anwesenheit mich so unruhig gemacht hat.
Denn es ist dieser Blick, der mir zeigt, dass sie es weiß.
Dass sie von der Szene in der Cafeteria mitbekommen hat und mich jetzt kennt.
Dass ich nicht mehr im Schatten stehe und eine von vielen bin, sondern die mit dem Alkoholproblem, die, die ihre Freunde scheiße behandelt hat und die, die bloßgestellt wurde, da sie anscheinend ihren Bruder wegen Drogen verpfiffen hat.
So ziemlich alle an dieser Universität denken das von mir, doch bei ihr ist es anders.
Andere tuscheln vielleicht unauffällig, haben es schon wieder vergessen oder interessieren sich einfach schlicht und ergreifend nicht dafür, doch sie ist nicht die anderen.
Denn in einer Sache bin ich mir sicher; Lorina Davis wird mir noch einige Probleme bereiten.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...