21 - Ich

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„In dem Fall treffen wir uns dann dort?"
Noella fährt sich ein letztes Mal durch die gelockten roten Haare, begutachtet ihr enges schwarzes Kleid und dreht sich dann vom Spiegel weg, um mich anzusehen.
„Auf jeden Fall", antworte ich zustimmend, ziehe ein Oberteil aus meinem Schrank und winke noch einmal kurz, als sie unser Zimmer verlässt.
Noella geht jetzt schon auf die Party und ich habe noch nicht mal ein passendes Oberteil gefunden.
Gestresst sehe ich auf meine Armbanduhr, die einst meiner Mutter gehört hat und stelle genervt fest, dass Luan bereits seit fünf Minuten auf dem Parkplatz auf mich wartet.
„Schon fünf nach neun", murmle ich, wechsle hektisch meinen Pullover zu einer eleganten roten Bluse und schnappe mir dann meinen Mantel inklusive Handtasche.
Vorsichtig, um bloß nicht auf dem Eis auszurutschen, das sich durch die Kälte gebildet hat, renne ich über den Campus, vorbei am Brunnen, vorbei am Hauptgebäude bis hin zum Parkplatz.
„Nur acht Minuten zu spät, das ist deine neue Bestzeit."
Mit einem Grinsen hält er mir die schwarze Autotür auf und ich steige lachend ein.
„Ich merke schon, dass du absolut keine Lust hast", stellt er fest, schließt seine Tür und wir schnallen uns beide an.
„Es ist nicht die Party an sich", erkläre ich, „eher die Leute dort."
„Ach was, mach dir keine Sorgen. Ich bin da, Noella ist da und Kilian und Elijah sind da. Den Rest kannst du ignorieren."
Ob Kilian mir eine so große Unterstützung sein wird bezweifle ich zwar, aber an den restlichen Tagen schaffe ich es schließlich auch Lorina zu ignorieren.
„Und wenn wir schon dabei sind. Inzwischen hat jeder den Streit zwischen deinem Bruder und dir in der Cafeteria vergessen. So, wie ich es mir schon gedacht habe. Lorina genauso. Mach dir um sie keine Sorgen."
Als könnte er meine Gedanken lesen, lächelt er mich aufmunternd an und biegt dann rechts ab.
Wenn er bloß wüsste, dass das noch viel größere Problem zwischen Kilian und mir existiert.
Luan scheint erneut meine Gedanken lesen zu können und fragt:„Was ist das eigentlich zwischen Kilian und dir? Er erzählt mir kaum noch von dir."
Er spricht mit Luan über mich?, kommt es mir direkt in den Sinn.
Wahrscheinlich seit der Party von Julian nicht mehr.
Und was hat er davor von mir erzählt?
Mir kommen hundert Dinge in den Kopf, die er hätte erzählen können, jedoch frage ich nicht weiter nach, was davon stimmen könnte.
„Ich schätze, das sollte ich heute klären", meine ich und schnalle mich ab, als wir vor einem Haus zum Stehen kommen.
Ein paar Meter weiter sehe ich schon einige Leute in einem großen Vorgarten, höre Musik und laute Stimmen.
„Und Alva?"
Ich drehe meinen Kopf nochmal zu ihm, als ich schon die Tür geöffnet und meine Beine aus dem Wagen geschwungen habe.
„Ich weiß, dass du viel mit Kilian beschäftigt bist, aber ich würde dir ans Herz legen, einmal das Gespräch mit Elijah zu suchen.
Er hat mehr auf dem Herzen, als er zugibt."
Sein Mundwinkel zuckt und er steigt wortlos aus.
Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommen uns drei Jungs mit weißen Plastikbechern entgegen und schlagen Luan ein.

Bis jetzt habe ich kaum jemanden entdeckt, den ich kenne.
Für ein paar Sekunden habe ich mal Noellas rote Haarpracht in der Menge gesehen, die sich in dem dreistöckigen Haus verteilt hat.
Wer die Party schmeißt, weiß ich immer noch nicht.
Wahrscheinlich wie 90 Prozent der Menschen hier.
Somit habe ich es mir auf einem Sofa mit einer Cola bequem gemacht und halt seit fast 20 Minuten Ausschau nach Luan, der sich eigentlich bloß etwas zu trinken holen wollte.
Immer wieder bekomme ich schräge Blicke ab und musste auch schon einen Betrunkenen abwimmeln, weswegen ich erst froh bin, als Kilian auf mich zusteuert.
Noch im selben Moment schwindet diese Freude, nicht mehr allein zu sein, schon wieder und ich schlucke schwer, als er sagt:„Können wir irgendwo sprechen, wo es ruhiger ist?"
„Klar", sage ich so leise, dass er ohne mein Nicken wahrscheinlich gedacht hätte, ich ignoriere ihn und folge ihm dann.
Während die Menge zum Neusten Lied von Rihanna tanzt und mitsingt, laufen wir die Treppen hoch in den ersten Stock.
Aufregung macht sich in mir breit und mir wird zunehmend heißer.
„Du kennst dich ja gut aus hier", meine ich und betrete den Raum, dessen Tür er mir offen hält.
„In diesem Haus ist schon so Einiges passiert", erklärt er kurz und schaltet das Licht ein.
Eine grelle Lampe, verziert mit einem schwarzen Lamepenschirm, flackert auf und es kommt eine große schwarze Couch, weiße Wände und ein Fernseher zum Vorschein.
Irgendein Gefühl sagt mir, dass ich nicht genauer auf diese passieren Ereignisse eingehen will, also drehe ich mich unbeholfen zu Kilian, der immer noch im Türrahmen steht.
Für ein paar Momente sehen wir uns einfach nur an.
Wir beide sehen den anderen erst jetzt wirklich, da das schummrige Licht unten kaum etwas zum Vorschein bringt.
Seine schwarze Jeans und der dunkle Pullover lassen ihn noch ernster und einschüchternder wirken.
„Wir können uns nicht die nächsten 20 Jahre anschweigen", unterbricht er die Stille und geht komplett in den Raum, damit er die Tür schließen kann.
Währenddessen lasse ich mich auf das Sofa sinken und beobachte die Kohlensäure meiner Cola.
Tatsächlich kann ich gar nicht einschätzen, ob er aufgrund des Vorfalls nach Julians Party sauer ist, oder einfach nur enttäuscht und traurig.
Wahrscheinlich alles gleichzeitig.
„Was war das?"
Als ich dich von der einen auf die andere Sekunde habe stehen lassen, nachdem wir uns fast geküsst haben, weil ich an meinen toten Freund gedacht habe?, frage ich mich selbst und schlucke schwer.
„Darauf habe ich keine Antwort", meine ich beschämt und kann nicht einmal seinen Blick erwidern.
Die Wut und die Enttäuschung, die ich darin wiederfinden würde, würde mich zu sehr verletzen.
„Keine Antwort", wiederholt er seufzend und lässt sich auf dem kleinen Hocker, mir gegenüber, nieder.
Die Sekunden der Stille kommen mir vor wie eine Ewigkeit.
Wie soll ich ihm das erklären?
Wie soll ich ihm eine Erklärung liefern, die er versteht und mit der er sich zufrieden gibt, ohne ihm alles aus meiner Vergangenheit zu erzählen?
Ich bin nicht bereit dafür, die ganzen Geschichten wieder auszupacken.
Dafür sind die Wunden einfach noch zu frisch.
Ich kann ihm nichts erzählen, was ich mir selbst noch nicht wirklich eingestanden habe und was ich immer noch nicht akzeptieren kann.
Wir sind hier hergezogen, um etwas zu ändern.
Ich will das Bild ändern, das alle von mir hatten.
Luan, Elijah und Kilian haben mich immer als Alva gesehen.
Als die ganz normale Alva, die an die Universität geht, die lernt, sich mit Freunden trifft, witzig ist und hin und wieder ausgeht.
Nicht als die kaputte Alva, die tagtäglich zu Hause sitzt, weint, sich selbst bemitleidet und hasst, nichts auf die Reihe bekommt und alles und jeden von sich stößt.
Ich habe mir Mühe gegeben, dieses Ich zu verstecken, zu unterdrücken und zu vergessen.
Aber nach und nach bröckelt die Fassade der normalen Studentin.
Nach und nach kommen Sachen zum Vorschein, die lieber verborgen geblieben wären.
Der Tod meiner Mutter, mein Alkoholproblem, die Selbstzweifel und die Seite von mir, die Menschen von sich stößt.
„Ich bin ein großer Freund von Ehrlichkeit, Alva. Und ich kann nicht damit umgehen, nicht zu wissen, wer du bist."
Wenn er Ehrlichkeit braucht, ist er bei mir falsch. Hart, aber wahr.
Für Ehrlichkeit habe ich zu viele Dinge, die ich verstecken will.
„Verstehst du, was ich sagen will?"
Das erste Mal, seit ich hier sitze hebe ich den Blick und sehe Verzweiflung und Verwirrung entgegen.
„Alles, was du sagst, alles, was du tust und alles, was du bist ergibt irgendwie keinen Sinn.
Du benimmst dich im einen Moment so und im anderen wieder ganz anders.
Dann sagst du etwas und machst widerrum etwas was überhaupt nicht dazu passt, was du eben noch gesagt hast."
Seine Worte sind wirr und er kann seine Gedanken offensichtlich nicht ordnen, während mein Kopf einfach nur leergefegt ist.
„Manchmal habe ich echt das Gefühl, da ist etwas ganz besonderes.
Da ist Vertrauen und eine Bindung.
Und dann kommt der Moment, in dem du dich für eine Sekunde öffnest.
Wenn du auf der Party geweint hast, als wir auf der Bank gesessen sind oder als du auf dem Parkplatz zusammengebrochen bist.
Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich dich.
Und ich will dir helfen, will für dich da sein.
Aber sobald du das merkst, blockst du komplett ab und stößt mich weg. "
Seine Stimme wird zunehmend lauter.
Ich weiß nicht, ob ich mir die wässrigen Augen einbilde oder nicht, trotzdem kann ich seinem Blick nicht mehr standhalten.
„Was ich bin ergibt keinen Sinn", murmle ich und lassen mir seine Aussage durch den Kopf gehen.
Meine Mundwinkel zucken kurz nach oben und ich schüttle den Kopf.
Über mich selbst, über die Situation.
„Du sagst es doch, Kilian. Was ich bin ergibt keinen Sinn.
Warum versuchst du es dann weiter? Warum lässt du mich nicht einfach?"
„Was sind das denn jetzt für bescheuerte Fragen?"
Er zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen und ich stelle meine Cola auf den Boden, um mein Gesicht in den Händen zu vergraben.
Er hat ja Recht. Und genau das ist es, was mir eine solche Angst einjagt.
Dass er mich durchschaut.
„Woher kommen denn bloß diese ganzen Selbstzweifel, Alva? Woher?", ruft er und springt auf.
„Warum denkst du so von dir? Merkst du nicht, dass das total ungerechtfertigt ist? Merkst du nicht, dass du dir bloß selbst im Weg stehst? Alle Typen schauen dir hinterher und alle Mädchen wollen so sein wie du.
Du hast uns drei und wir wollen dir helfen. Ich will dir helfen. Wir sind für dich da.
Wo ist also der Grund dafür, dass du das nicht einfach zu lässt und merkst?
Du stehst dir ganz allein selbst im Weg, Alva.
Es ist nicht Noel, der dich an irgendetwas hindert. Es ist nicht Elijah, nicht Luan, nicht ich.
Es bist ganz allein du."
Tränen laufen meine Wangen hinab, als ich den Kopf hebe und ihn ansehen will.
Seine laute Stimme hallt in meinem Kopf wider.
Ich stehe mir ganz allein selbst im Weg.
„Weißt du was?"
Seine Stimme ist plötzlich ganz ruhig, als er sich ein wenig von mir wegdreht, um gegen die Wand zu schauen.
„Wenn ich genau so über dich denken würde, wie du über dich selbst denkst, würdest du mich dann überhaupt noch an deinem Leben teilhaben lassen?"













Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt