34 - Schuldgedanken

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Erschöpft stehe ich einige Meter von Levis Grab entfernt, nachdem die Beerdigung ihr Ende gefunden hat und sich einige Leute noch unterhalten, trauern oder einfach nur gemeinsam dastehen.
Das Ende der Beerdigung hat mir nochmal einen heftigen Stich ins Herz versetzt. Es fühlt sich irgendwie wie das endgültige Ende von Levi ab.
Ein seltsames Gefühl, das ich nun schon zum dritten Mal spüren muss. Allein hier zu stehen, an diesem Ort, an dem ich schon so unfassbar viele Tränen vergossen habe, bedrückt mich und ich ziehe meinen schwarzen Mantel enger an mich.
Das trübe Wetter lässt die Stimmung noch bedrückter wirken. Das war eine schöne Rede. Levi würde sich freuen."
Überrascht drehe ich meinen Kopf zur Seite und schaue geradewegs in die geröteten Augen Junas, deren Lippen sich dennoch zu einem leichten Lächeln verziehen. Auch meine Mundwinkel ziehen sich kurz nach oben und ihre Worte bedeuten mir unglaublich viel, vor allem, weil sie aus ihrem Mund kamen und aus irgendeinem anderem.
Für einige Momente sehen wir uns einfach bloß an, bevor sie tief einatmet.
„Levi hat zwei Tage vor seinem Tod einmal nach dir gefragt. Ich habe ihm von dem Telefonat erzählt, hatte aber selbst keine Hoffnung mehr, dass du noch kommen würdest.
Er hat dir keine Vorwürfe gemacht. Zumindets nicht vor uns."
Langsam nicke ich und muss mich beherrschen, nicht loszuheulen. Mir brennt die Frage auf der Zunge, warum sie mich nicht nochmal angerufen hat, aber ich will es nicht wie einen Vorwurf klingen lassen, deswegen lasse ich die Frage unausgesprochen.
Ich würde am liebsten so viel wissen. Ich würde gerne fragen, wie es Levi in all der Zeit ging. Was er gemacht, gesagt und gedacht hat.
Ich würde gerne wissen, wie es Juna, Noah und Ella ging, nachdem ich umgezogen bin. Was sie gemacht haben und wie sie getrauert haben.
Um Milan, und vielleicht sogar ein Stück weit auch um mich. Wie sie den Schmerz verarbeitet haben oder ob sie das überhaupt getan haben.
Es gibt so viele Dinge, die ich gerne in Erfahrung bringen würde. Aber ich bleibe still. Ich frage nichts.
Vielleicht aus Angst, dass mich noch mehr Schuldgefühle einholen. Aus Angst, dass ich alles bereue, was ich getan habe und vielleicht aus Angst, dass mich die Antworten wieder zurück katapultieren würden, obwohl ich versucht habe, all das hier loszulassen.
Momentan fühlt sich das Leben hier und das Leben in Berlin wie zwei verschiedene Welten an.
Wie zwei verschiedene Alvas. Zwei verschiedene Leben.
Vielleicht macht mir allein der Aufenthalt hier und die Konfrontation mit all den Leuten und Orten Angst, weil ich nicht anders sein will, wenn ich wieder nach Berlin zurückkehre.
Allein diese paar Tage hier bringen mich dazu, dass ich mich wieder an alle Details erinnern kann.
An Junas raue Stimme und die Farbe ihrer braunen Augen.
An die Anordnung der Gräber auf dem Friedhof und die geschwungene Schrift des Names meiner Mutter auf dem Marmorstein.
An Noahs Sommersprossen und an Ellas süßes Gesicht mit den Grübchen.
Aber vor allem erinnere ich mich wieder an so viele Situationen.
Wie Milan und ich abends kichernd durch die Straßen gerannt sind, damit ich pünktlich zu Hause ankomme.
Wie wir alle gemeinsam im Park picknicken waren und wie meine Mutter und ich einkaufen waren und einen Kaffee trinken gegangen sind.
Ich erinnere mich an die Blicke, die mir Milan dabei zugeworfen hat und sein lautes Lachen. An das verzogene Gesicht meiner Mutter, als ihr der Kaffee nicht geschmeckt hat und ihr Grinsen, als ich endlich mit dem passenden Kleid aus der Kabine kam.
So unscheinbare kleine Details, die mir alle wieder in den Kopf schießen, wenn ich an diesem Ort bin.
Vielleicht hatte ich irgendwie insgeheim gehofft, dass es mir in Berlin leichter fallen würde weiterzuleben, weil ich die Details irgendwann vergesse, da mich dort nichts mehr an sie erinnert.
Gleichzeitig jedoch hat es mich unfassbar unglücklich gemacht, zu vergessen, wie Milan riecht oder wie meine Mutter lacht. Als wir raschelnde Blätter hören und uns zur Seite drehen, entdecken wir Ella und Noah, die auf uns zu kommen.
„Schön, dass du gekommen bist, um Abschied zu nehmen", sagt Noah mit einem Nicken und es ist irgendwie komisch, dass die Beerdigung das Einzige ist, worüber wir uns überhaupt ansatzweise unterhalten, nachdem so unfassbar viel geschehen ist. Doch über die Vergangenheit spricht niemand.
„Wann reist du wieder ab?", fragt Ella und ich weiß nicht, ob es sie wirklich interessiert, oder, ob sie bloß Gesprächsstoff sucht.
„Morgen."
Es schmerzt, so distanziert mit den Leuten zu sprechen, die noch vor einigen Monaten mein Lebensmittelpunkt waren.
Die mich besser kannten, als ich mich selbst.
„Also, gute Reise noch", meint Noah kurz und Ella hebt die Hand als Verabschiedung. Überaschenderweise schließt mich Juna plötzlich in die Arme und ich schließe meine Augen.
„Werdet ihr mir jemals vergeben?", frage ich leise und sie antwortet nach einigen Sekunden:„Ich weiß es nicht."
Langsam lösen wir uns wieder und ohne ein weiteres Wort wenden sie sich ab und laufen in die Richtung der anderen Leute. Auch ich drehe mich um und verweile noch ein paar Momente an Ort und Stelle.
Als ich gerade den ersten Schritt machen will, höre ich Junas Stimme und drehe mich noch ein letztes Mal um.
„Bereust du es denn?"
Ich denke darüber nach, ob ich nochmal genauso handeln würde oder nicht.
Ob ich sie wieder alle von mir stoßen und wegziehen würde.
Schlussendlich kommt meine Antwort wie automatisch.
„Ich weiß es nicht."

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt