Für einige Momente ist es still in der Leitung, bevor sie wieder zu Wort kommt.
„Ähm, hey."
„Hey. Entschuldige, ich habe jemand anderen erwartet", bekomme ich mit einem dicken Kloos im Hals raus.
Sie lacht kurz nervös auf.
„Verständlich, schließlich rufe ich nicht alle Tage an."
Um genau zu sein seit über einem Jahr schon nicht mehr, denke ich mir und frage mich, ob ich ihr das vorwerfen kann oder ob ich selbst schuld bin, schließlich habe ich meine beste Freundin und alle anderen von mir gestoßen und bin in eine andere Stadt abgehauen.
„Es geht um Levi", höre ich sie sagen und richte meinen Blick auf das Fenster neben meinem Bett.
Ich warte bis sie fortfährt und merke, dass es ihr nicht leichtfällt, was auch immer sie sagen will.
„Levi ist krank."
Da Juna und ich seit mehr als einem Jahr keinen Kontakt mehr haben, und das nicht ohne Grund, ist mir direkt klar, dass sie nicht einfach anrufen würde, weil Levi ein wenig vor sich hin hustet.
Ich bin schon auf jegliche schlimme Dinge vorbereitet, doch als sie mir sagt, an was er tatsächlich leidet, trifft es mich wie ein Faustschlag.
„Es wurde ein Tumor in seinem Kopf entdeckt. Es sieht nicht gut aus, Alva." Während sie sich beherrscht und sich abgesehen von ihrer zitternden Stimme nichts anmerken lässt, bekomme ich kein Wort raus.
Mein Hals schnürt sich noch mehr zu als sowieso schon und eine Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus.
Milan erscheint vor meinem inneren Auge und für einen kurzen Moment bin ich froh ihm nicht mitteilen zu müssen, dass sein bester Freund nicht mehr lange zu leben hat.
„Sie können nicht mehr viel für ihn tun."
Junas leise Stimme bringt mich wieder ins Hier und Jetzt.
Sie überbrückt die Pause mit einem Seufzen, bevor sie weiter spricht.
Dass sie noch nicht gefragt hat, ob ich überhaupt noch am Telefon bin, wundert mich.
„Ich würde dich nicht anrufen, wenn es nicht wirklich ernst wäre. Er hat mich nicht explizit darum gebeten, eine verschollene Freundin anzurufen und herzubeten, aber vielleicht können wir für einen Moment mal alles andere zwischen uns vergessen und ihm einfach ein schönes Ende bereiten."
Die bissige Nachricht an mich, die sich dahinter verbirgt, ignoriere ich und konzentriere mich lieber auf das wesentliche. Auf Levi.
„Natürlich komme ich vorbei."
Bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann, ist der Satz schon raus. Allein das Telefonat hat mich wieder zurück in die Vergangenheit katapultiert, doch wenn ich wieder in meine alte Heimat reise und mich in die Gegenwart alter Freunde begebe, weiß ich nicht, ob ich das verkraften kann
„Lass dir nicht zu viel Zeit. Ich weiß nämlich nicht, wie viel wir davon noch haben."
Ich bin mir nicht sicher wie viel Zeit vergeht, bis ich das Handy von meinem Ohr nehme, obwohl sie schon längst aufgelegt hat.
Ohne wirklich etwas wahrzunehmen starre ich auf den Campus, den Brunnen und die großen Bäume.
Tränen steigen mir in die Augen und ich halte mir schockiert die Hände vor den Mund.
Levis Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge und ich fühle mich zurückversetzt.
Levi hat so viel für mich getan.
Er hat für Milan so viel getan.
Die beiden waren wie Brüder, kannten sich schon seit ihrer Geburt, da ihre Eltern gute Freunde waren.
Sie waren eine Einheit.
Manchmal hatte ich das Gefühl, Milan würde in Levi weiterleben.
In manchen Momenten, wenn ich Levi angesehen habe und er mir dieses eine, wundervolle Lächeln geschenkt hat, habe ich für eine Sekunde Milan vor mir gesehen.
Aber im Endeffekt lebt Milan in uns alle weiter.
In seinen Eltern, in Juna, in Ella und Noah, in all seinen Freunden eben - und auch in mir.
In jedem, der an seinem Leben teilhaben durfte.
Jeder, dem Milan etwas bedeutet hat. Jeder trägt ein Stück von ihm weiter in sich, weiter in seinem Herzen, denn in gewisser Weise begleitet er auch jeden von uns auf seinem Lebensweg.
Und manchmal, wenn uns der Weg zu steil vorkommt und wir denken, dass wir es nicht aus eigener Kraft schaffen, müssen wir einfach mal die Augen schließen.
Dann schaue ich einfach zur Seite und sehe Milan.
Sehe, wie er neben mir steht, mich anlächelt, meine Hand nimmt und mir hilft, den Weg zu erklimmen.
Denn im Endeffekt ist so vieles möglich, wenn wir ganz fest daran glauben. Wenn wir glauben, dass da etwas ist, dass uns Kraft gibt.
Dass da jemand ist, der uns zur Seite steht, uns anlächelt und sagt, dass wir das schaffen können.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...