29 - Gewalt

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Mein erster Impuls ist es, in mein Zimmer zu rennen, doch ich lasse das jetzt nicht auf mir sitzen. Ich werde nicht gehen, weinen, oder mir ewig lang Gedanken darüber machen. Viel zu oft habe ich Dinge erstmal auf mir sitzen gelassen, anstatt es direkt zu klären.
Mit feuchten Augen, rasendem Herz und weichen Knien gehe ich schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung, in die Lorina und Noella eben verschwunden sind.
Die Leute, an denen ich vorbeistürme, beachte ich kaum. Stattdessen schweift mein Blick hektisch hin und her.
Da die meisten gerade auf ihren Zimmern, in der Cafeteria oder in der Stadt sind, befinden sich kaum Menschen auf den Gängen.
Mein Herz hämmert immer stärker gegen meine Brust und ein unwohles Gefühl macht sich in mir breit.
Als ich Noel tatsächlich einige Meter weiter entdecke, wie er wutentbrannt auf die Toilette, einige Meter neben der Cafeteria, zustürmt, renne ich auf ihn zu und mit jedem Schritt schnürt sich mein Hals mehr zu.
Angst macht sich in mir breit und ich kann nicht mal genau sagen, weshalb.
Angst vor meinem Bruder?
Für diesen Gedanken könnte ich mich selbst schlagen.
„Du erzählst absoluten Blödsinn!", rufe ich aufgebracht und meine Augen weiten sich, als er sich mit geballten Fäusten umdreht und auf mich zukommt.
„Du kannst das nicht von Lorina haben. Ich habe nie mit ihr gesprochen. Und Noella mag sie auch nicht besonders, geschweige denn, dass sie befreundet sind", erkläre ich dann eingeschüchtert und leiser.
Doch dabei versuche ich eher mich selbst zu überzeugen, als Noel, denn ich traue mich kaum einzusehen, dass meine Vermutung stimmen könnte.
Noella hat mir die ganze Zeit etwas vorgespielt.
Dass Lorina mich nicht leiden kann, war von Anfang an klar, warum auch immer. Noella war ihr Maulwurf, hat sich mit mir angefreundet und mich glauben lassen, wir finden dieselbe Person unsympathisch, um Dinge über mich herauszufinden.
Sie hat mich oft in unangenehmen, privaten Situationen gehört oder gesehen. Wenn ich in der Nacht geweint habe, oder mittags im Bad. In so vielen Situationen hat sie mich ohne Fassade gesehen, auch wenn ich das nicht wollte.
Aber vor allem habe ich ihr einige Sachen erzählt, die ich nicht jedem einfach so erzähle.
Keine Details, aber ich habe den Tod meiner Mutter kurz erwähnt, als sie das Bild von uns auf meinem Nachttisch gesehen hat und so viele weitere Kleinigkeiten, die sie und vor allem Lorina als großes und ganzes gegen mich verwenden können.
Sie hat mir die nette Mitbewohnerin vorgespielt, obwohl sie die ganze Zeit mit Lorina befreundet war.
Tränen treten mir in die Augen und ich fühle mich unglaublich verraten, verletzt, hintergangen und angreifbar.
„Sie sind beste Freundinnen, Alva, was redest du für einen Unsinn?"
Noels Worte nehme ich nur am Rande wahr. Stattdessen zieht sich alles in mir zusammen und ich habe das Gefühl nun nackt, ohne Schutz und verletzlich vor zwei Mädchen zu stehen, die mir aus einem mir unerklärlichen Grund etwas Böses wollen. „Ich dachte ich kann ihr vertrauen", flüstere ich und mein Blick trifft wieder Noels.
„Das ist alles Teil ihres Plans!", rufe ich unter Tränen und greife nach seinem Arm, doch er weicht mir aus.
„Was denn für ein Plan? Hast du getrunken oder was?"
Fassungslos sieht er mich an. Mit einem spöttischen Blick, als wäre ich ein betrunkenes Häufchen Elend, das kaum ernst zu nehmen ist.
„Beschuldige Lorina nicht mit sowas!"
„Sie manipuliert dich!"
Auf einmal bin ich unglaublich wütend auf Lorina und vor allem auf Noella, die mich schamlos ausgenutzt und ins offene Messer hat laufen lassen.
Er fasst sich kurz an seine Wange, die immer noch gerötet ist von den Ohrfeige und will sich dann abwenden, um zu gehen.
Doch ich lasse nicht locker und schreie ihm hinterher.
So langsam macht mich all das Drama bloß noch wütend.
„Noella hat mir die ganze Zeit etwas vorgespielt.
Sie hat mir gesagt, sie sind nicht befreundet. Ich habe ihr geglaubt und hin und wieder Dinge erwähnt, wie zum Beispiel, dass unsere Mutter tot ist.
Doch niemals habe ich ein falsches Wort über dich verloren. Sie hat das alles Lorina erzählt, die mit verdrehten Tatsachen versucht hat, uns gegeneinander auszuspielen.
Mit Erfolg. Du musst mir glauben!"
Ohne eine Regung läuft er weiter und ich ziehe die Augenbrauen zusammen und balle meine Hände zu Fäusten.
„Wie kannst du dieser manipulativen Bitch glauben, aber deiner eigenen Schwester nicht? Dieses billige Flittchen hat kein Recht dazu, unsere Familie noch weiter kaputt zu machen!"
Innerhalb weniger Sekunden hat er sich umgedreht, ist mit schnellen Schritten auf mich zugekommen und hat mich am Handgelenk gepackt.
Mit einem lauten Knall stoße ich gegen die kühle Wand und verziehe schmerzvoll das Gesicht.
„Sprich nicht so über sie!"
„Lass mich los!", schreie ich und versuche, mich aus seinem festen Griff zu winden.
Im selben Moment, als ich Kilian, Luan und Elijah entdecke, die aus der Cafeteria kommen, sehe ich auch Noella und Lorina über Noels Schulter, die mit überraschten Gesichtern auf der Treppe stoppen, die sie eben runterkommen wollten.
Gerade, als ich erneut schreien will, zieht mich Noel von der Wand weg, jedoch bloß, um mich erneut dagegen zu stoßen. Doppelt so hart wie zuvor.
Mehrere männliche Stimmen rufen uns aufgebracht Dinge zu und für einen Moment wird mir schwarz vor Augen und im Nächsten wird Noel von mir weggezerrt. „Was hast du für ein Problem?!", schreit Kilian meinen Bruder an und schubst ihn mit voller Wucht gegen die Wand.
„Ist alles okay, Alva?" Elijahs Worte dringen kaum zu mir durch und ich halte mir auf wackligen Beinen den dröhnenden Kopf, während er stützend seine Arme um mich legt.
„Kilian, hör auf!" Luan drängt sich vor Kilian, der versucht, auf meinen Bruder loszugehen, während dieser komplett verwirrt und neben der Spur zu den anderen sieht und sich an der Wand abstützt.
Irgendwas stimmt nicht mit ihm.
„Hör auf!" Plötzlich rennt auch Noella die letzten Stufen hinab und stellt sich zwischen die beiden, sodass sie beinahe selbst einen Schlag von Kilian abbekommt. Die hektische Situation und die Lautstärke überfordert mich und ich schließe kurz die Augen, um dem Schwindel entgegenzuwirken.
„Verpiss dich!", schreit Kilian erneut wutentbrannt meinem Bruder entgegen und schubst ihn weg.
Obwohl ich kaum mehr klar bei Sinnen bin, runzle ich die Stirn, als ich meinen Bruder ansehe.
Ohne sich zu wehren, lässt er all das mit sich machen und geht Kilians Aufruf sogar wortlos nach.
Sein emotionaler Zustand hat sich auf einmal um 180 Grad gedreht.
Eben ist er noch auf mich losgegangen und jetzt trottet er orientierungslos in Richtung Ausgang.
„Etwas stimmt nicht", nuschle ich mit verschwommenem Sichtfeld und im selben Moment, als mir erneut schwarz vor Augen wird und ich meinen Kopf kraftlos auf Elijahs Brust sacken lasse, kippt Noel zur Seite und bleibt regungslos auf dem Boden liegen.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt