10 - Spekulationen

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Das restliche Wochenende verlasse ich mein Zimmer in der Universität nur für das nötigste und verbringe meine Zeit hauptsächlich mit schlafen und langweilen.
Selbst als Elijah mir Samstagabend eine Nachricht schreibt und will, dass ich mit ihm und den Jungs weggehe, lehne ich mit der Begründung ab, ich müsse noch so viel lernen und mache im Endeffekt dann doch nichts.
Dass ich wieder in alte Muster verfalle stört mich, doch etwas daran ändern kann ich irgendwie auch nicht.
„Alles klar bei dir?" Immer noch in Gedanken hebe ich den Kopf und bemerke erst jetzt, dass Noella das Zimmer betreten hat und schon auf ihrem Bett sitzt.
„Ja. Alles gut", antworte ich abwesend und zwinge mir ein Lächeln auf.
Ihre dunkelroten Haare sind in einen tiefen Zopf gebunden und sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus der Frisur gelöst hat.
Ihr Blick signalisiert mir, dass sie etwas sagen will, sich aber nicht ganz traut. Ich ahne schon, um was es sich handelt und mein Verdacht soll sich bestätigen.
„Das in der Cafeteria tut mir echt leid." Ich weiß nicht, wie ich auf ihr Mitleid reagieren soll, also lächle ich meine negativen Emotionen gegenüber dieses Ereignisses weg und schlüpfe in die Rolle eines Mädchens, die über so etwas drüber steht.
„Danke, aber ist nicht so dramatisch."
Für einen Moment scheint sie mich zu mustern und dabei zu überlegen, ob sie mir das so glauben kann oder ob ich mich für stärker gebe, als ich es eigentlich bin.
Letztendlich erscheint dann ein kleines Lächeln auf ihren Lippen und sie erhebt sich wieder, um ihren Rucksack auszuräumen.
„Es wird viel geredet", führt sie dann das Gespräch weiter, hebt den Blick allerdings nicht von dem blauen Ordner, den sie in ihr Regal räumt.
„Wird es das nicht immer?" Mühsam stehe ich auf und öffne das große Fenster neben meinem Bett, da heute ein verhältnismäßig warmer Tag ist.
„Da hast du Recht", antwortet sie nach einer Weile und ich stütze meine Unterarme auf dem weißen Gitter, das zur Sicherheit an der unteren Hälfte des bodentiefen Fensters angebracht ist. Für einige Momente genieße ich die frische Luft und betrachte den verhältnismäßig leeren Hof, der sich vor mir erstreckt. Spätestens heute Abend werden alle Studenten zurückkommen, die über das Wochenende weg waren. Ich wende den Blick von den wenigen Leuten ab und sehe stattdessen zu Noella, die inzwischen auf dem Bett sitzt und einen kleinen Stapel Papier in einen Ordner einsortiert.
„Bist du mit Lorina befreundet?" „Nein", meint sie schulterzuckend „man kennt sich von früher, aber großartig was miteinander zutun haben wir nicht."
„Also kennst du sie nicht so richtig persönlich?"
„Eher weniger."
„Hm, okay."
Somit wird es mich also nicht weiterbringen, wenn ich ihr ein paar Fragen über sie stelle.
Andererseits ist das vielleicht auch besser so und zeigt mir, dass ich beim Thema Lorina Davis nicht unnötig weiter in die Tiefe gehen sollte.
Im Endeffekt mache ich mir sowieso nur zu viel unnötige Gedanken über sie.
So wie immer bei allem eigentlich.

Die Tatsache, dass heute Montag ist und somit eine neue Woche für mich beginnt bringt mich beinahe zum Weinen und ich lehne mich tief durchatmend zurück.
„Das Gute daran ist, dass je gefährlicher die Strahlen sind, sie eine umso kürzere Reichweite haben", führt der Professor seinen Vortrag fort und ich notiere mir einen weiteren Stichpunkt unter der Überschrift radioaktive Strahlen.
„Morgen Abend ist die Geburtstagsfeier von Finn. Das war der Typ aus der Bar zusammen mit Lara und Lukas, falls du dich erinnern kannst.
Habe komplett verpennt dich zu fragen, ob du mitkommen willst", flüstert mir Elijah zu und wirft einen Blick vor zum Professor, um nachzusehen, ob er schon aufmerksam auf unser Gespräch geworden ist.
Als ich auf meine Antwort warten lasse und er meine Unentschlossenheit bemerkt, spricht er weiter, bevor ich ablehnen kann.
„Ich korrigiere mich; habe ganz verpennt dir zu sagen, dass du mitkommen wirst."
Ich lächle über seinen Versuch mich zu überzeugen und stimme dann letztendlich auch zu.
Vielleicht sollte ich wirklich mal wieder weg gehen.
„Nebenbei schwänzen wir die Kurse am nächsten Tag", fügt Kilian auf meiner anderen Seite hinzu und schließt sich unserem Gespräch an. „Wahrscheinlich schlafen wir auch dort", flüstert er weiter und da schlafen wohl Luans Stichwort ist, lehnt er sich vor auf den Tisch, um an Elijah vorbeischauen zu können.
„Die Frage ist bloß noch mit wem."
Wir lachen über seine Bemerkung und ich verdrehe amüsiert die Augen.
So einen Spruch habe ich auch bloß von Luan erwartet.
Als der Professor uns dann einen warnenden Blick zuwirft, werden wir wieder aufmerksam und drehen uns nach vorne, doch mir fällt es weiterhin schwer meine Gedanken den radioaktiven Strahlen zu widmen.
Zu sehr muss ich an die Situation bei meinem Vater gestern denken, und deswegen beschließe ich in der Mittagspause mit Kilian zu sprechen.
Ich werde einfach nicht schlau aus den Handlungen meines Vaters und hoffe, dass Kilian vielleicht einen Sinn hinter ihnen erkennt.
„Totaler Schwachsinn", höre ich Luan sich über irgendetwas beschweren und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Jungs und mein bis jetzt unangetastetes Essen.
Die Cafeteria ist verhältnismäßig leer und dennoch spüre ich Blicke auf mir. Wie eigentlich immer seit Noels Vortrag. „Kann ich kurz mit dir sprechen?" Meine Frage bleibt von den anderen ungehört und Kilian erhebt sich neben mir nickend.
„Ist etwas passiert?"
„Nein, alles gut", verneine ich aus einem Reflex heraus und wir entfernen uns von der Gruppe, nachdem Elijah gefragt hat was wir machen und Kilian geantwortet hat, wir würden nur kurz raus gehen.
Dieser Reflex hat sich wahrscheinlich bei mir eingeschlichen in den letzten Monaten, als ich immer gelächelt und den Kopf geschüttelt habe, als Leute mich gefragt haben, ob etwas passiert sei, obwohl sehr viel passiert ist.
Oder ich eben lächelnd mit dem Kopf genickt habe, wenn die Frage kam, ob es mir gut gehe, obwohl es mir nie schlechter ging.
Ich schmunzle über diesen Gedanken und wie leicht es ist, andere vom Gegenteil zu überzeugen, wenn sie einfach keine Lust haben sich deinen Problemen zu widmen.
„Ich war bei meinem Vater und gegen später ist dann auch Noel gekommen", beginne ich und stoße die Tür nach draußen auf.
Kilian nickt und wartet auf eine Fortsetzung, auf die ich nicht lange warten lasse.
„Als wir noch allein waren habe ich ihn gefragt, von wem er die Information habe.
Er meinte, er könne es mir nicht sagen. Selbst als Noel da war und wieder ausgeflippt ist, wollte er es nicht sagen. Immerhin hat er bestätigt, dass er nichts von mir wisse, aber damit lässt sich Noel nicht zufriedenstellen." Seufzend bleibe ich vor der Hüfthohen Mauer stehen, auf die Kilian sich mit Schwung hoch hievt.
„Er deckt jemanden?", fragt er mit zusammengezogenen Augenbrauen und ich betrachte kurz seine Jeansjacke, die ihm unglaublich gut steht, bevor ich mich wieder auf das Wesentliche konzentriere.
„Scheint so, aber ich kann mir im Leben keinen vorstellen, den mein Vater bei sowas dummen decken sollte. Ich meine, wir sind doch in keiner Kriminalserie in der irgendjemand ermordet wurde.
Stattdessen nimmt er es in Kauf, dass seine Kinder sich immer weiter zerstreiten, und das ungerechtfertigt."
Ich verstehe die Hintergründe meines Vaters überhaupt nicht und weiß im Moment gar nicht wo hin mit meiner ganzen Verzweiflung.
„Morgen werden wir das endgültig klären."
„Auf Finns Geburtstagsfeier?"
Fragend ziehe ich die Augenbrauen hoch, während Kilian bloß selbstverständlich nickt.
„So kann das doch nicht weitergehen.
Dann können wir auch gleich Luan fragen, was er denn mit seinen Spionen über Noel rausgefunden hat."
Ein kleines Lächeln bildet sich auf seinem freundlichen Gesicht und für einen Moment verliere ich mich in meinen Gedanken und sehe ihn einfach bloß an.
Ich bin nicht einmal einen Monat hier und trotzdem weiß ich jetzt schon, was für ein herzensguter Mensch er ist.
Was für herzensgute Menschen sie alle drei sind, während ich ebenfalls schon jetzt weiß, dass ich in der Zukunft ungerecht zu ihnen sein werde.
So wie ich es immer unabsichtlich zu allen irgendwann bin.
Wenn man mit sich selbst nicht klar kommt, wie soll man andere dann richtig behandeln?
Muss man nicht erstmal sich selbst richtig behandeln, bevor man anderen das geben kann, was sie verdienen?
Den Umgang geben kann, den sie verdienen?
Also, wie habe ich sie dann verdient?






Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt