43 - Erinnerungen

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Erinnerungen. So viele Erinnerungen. Sie sind manchmal ein Trost und manchmal eine Qual. Manchmal lächle ich und spüre eine angenehme Wärme, wenn ich an die Vergangenheit und die Menschen denke, die mich verlassen haben. Manchmal möchte ich schreien, weinen und es zerreißt mir dann das Herz, wenn ich an all die schönen Momente zurückdenke.
Es ist schwierig, mit all den Erinnerungen umzugehen. Mit all denen, die in meinem Kopf rum schwirren, die absolut schön waren und mich berührt haben, aber von denen ich weiß, dass es niemals mehr so sein wird. Denn schlussendlich ist der Schmerz, wenn du in den traurigsten Momenten an die schönsten vergangenen Erinnerungen denkst, der schlimmste.
Das schwierige daran ist wahrscheinlich, dass man sie nicht ablegen kann. Ich trage sie immer mit mir rum. Sie sind immer an mich gebunden und sie sind immer präsent, während ich neue Erinnerungen sammle. Dennoch werden die alten nicht ersetzt, sie sind umso aktueller, wenn ich neue Dinge erlebe, da sie mich so oft bei meinem Handeln beeinflussen. Mal gut, mal schlecht.

Meine Mundwinkel zucken nach oben und ich streiche mir über die feuchten Augen. Tief durchatmend schließe ich sie und genieße die kühle Winterluft, die durch das Fenster meines Zimmers strömt, vor dem ich auf einem Sessel hocke. Ich lausche den Geräuschen der Gespräche zwischen den Schülern auf dem Campus und dem leichten Regen, der auf die Dächer prasselt. Als es laut klopft und die Tür sich öffnet, zucke ich zusammen und wische mir nochmal schnell die Augen trocken, bevor ich mich zu Kilian drehe, der mit zusammengezogenen Augenbrauen im Raum steht.
„Was ist das denn für eine Kälte hier? Du wirst ja noch krank, um Himmels Willen."
Er quetscht sich an mir vorbei, schließt schnell das Fenster und dreht sich dann kopfschüttelnd zu mir. Kaum ist es zu, fühle ich mich direkt wieder eingeengt und unwohl, während mich die erstickende Heizungsluft wieder umhüllt.
„Geht es dir gut? Ich wollte dich eigentlich jetzt abholen, um mit den Jungs was essen zu gehen." Er stützt sich auf der rechten und linken Armlehne meines Sessels und gibt mir einen kurzen Kuss.
„Geht es dir wieder schlechter, Alva? Fängst du wieder an mit den Gedanken an alles? Bekommst du wieder Zweifel? Schlechte Laune? Depressives Verhalten? Oder ..."
„Können wir los?", unterbreche ich ihn gestresst, schiebe ihn von mir und stehe auf, um Abstand zu gewinnen.
„Es geht mir gut. Alles wie immer. Ich muss mich nur kurz umziehen", murmle ich, ohne ihn anzusehen, krame eine Jeans und einen Pullover aus meinem Schrank und verschwinde im Bad.
„Seit wann musst du ins Bad, um dich umzuziehen?", höre ich seine verwirrte Stimme, als ich die Tür sicherheitshalber abschließe und hocke mich erstmal auf den Klodeckel. Damit ich kurz Ruhe vor dir habe.
„Muss noch auf die Toilette", rufe ich und seufze auf.

„Das war so lustig, als Florian dann weggerannt ist", fügt Elijah Kilians Geschichte von damals lachend hinzu, die er eben erzählt hat. Abgelenkt rühre ich mit dem Strohhalm die Eiswürfel in meinem Cocktail um und beobachte die Kohlensäure, die aufsteigt. Als hätte ich einen Sinn dafür, schaue ich mal wieder genau in dem Moment hoch, als Luan seinen Blick von den Jungs abwendet, seinen Kopf dreht und geradewegs in meine Augen sieht. Seelenverwandtschaft. Ich erinnere mich an seine Wort und meine Mundwinkel zucken kurz hoch. Er legt den Kopf etwas schief und ich weiß, dass er fragen will, was schon wieder passiert ist, dass ich so abwesend bin. Mal wieder scheint er der Einzige zu sein, der es bemerkt.
„Kommst du mit eine rauchen?" Luan nickt mit dem Kopf in Richtung Ausgang und ich nicke langsam mit einem fragenden Blick.
„Seit wann rauchst du?" Er zuckt mit den Schultern und erhebt sich, während ich es ihm gleich tue.
„Gar nicht. Wollte es nicht so auffällig aussehen lassen, dass wir quatschen gehen, aber die beiden sind sowieso zu abgelenkt", erklärt er, deutet in die Richtung von Elijah und Luan, die sichtlich vertieft in ihr Gespräch sind und schlängelt sich an den Leuten vorbei zum Ausgang.
„Es bricht mir immer das Herz, dich so zu sehen." Er schüttelt den Kopf, als wir uns neben ein paar Raucher vor dem Restaurant stellen und ich lehne mich seufzend an der kühlen Wand an.
Ich suche die passenden Worte, jedoch weiß ich gar nicht für was, da eigentlich überhaupt nichts Bestimmtes vorgefallen ist. Anstatt ihm eine richtige und emotionale Erklärung zu liefern, wie sonst, zucke ich erstmal bloß mit den Schultern.
„Es ist wieder wie von vor ein paar Monaten. Ich fühle mich wieder zu jederzeit irgendwie schlecht. Bedrückt. Traurig."
Ich kann ihn nicht ansehen, während ich rede. Es ist wieder so wie zu der Zeit, bevor ich an die Uni kam, als ich an die Uni kam und eigentlich auch während ich an der Uni war." Ich lache auf und kratze mich am Kopf. Ein Versuch, mit Lachen meine Tränen zu verdrücken.
„Nein, weißt du was ich meine? Du weißt teilweise selbst, wie ich war, bevor das mit Kilian so angefangen hat. Die ganze Scheiße, die mir bisher in meinem kurzen Leben passiert ist, hing immer an mir dran wie Betonklötze, hat mich immer runtergezogen und daran gehindert, weiterzugehen.
Das alles war immer präsent, hat mich immer eingeholt und komplett umhüllt mit dieser Trauer und all den negativen Gefühlen. Dank euch dreien und Noel, dank dieser Freundschaft zu euch, hatte ich irgendwann mehr Kraft, die Klötze hinter mir herzuziehen.
Aber Kilian war der Erste, der es hinbekommen hat, diese Klötze beinahe komplett von mir zu lösen und für ein paar Momente vielleicht auch ganz zu entfernen."
Ein kleines Lächeln bildet sich auf meinem Gesicht und ich schließe die Augen, um nicht zu weinen.
„Aber so langsam wird er statt dem Problemlöser, selbst zu einem Problem." Erst jetzt drehe ich meinen Kopf zu Luan, der mit verschränkten Armen zu mir sieht und tatsächlich scheint er gar nicht überrascht zu sein, dass ich meinen eigenen, festen Freund gerade als ein Problem bezeichne, obwohl es für andere, und auch für Kilian selbst, die ganze Zeit so aussah, als wäre alles toll. Ich lache kurz auf.
„Wieso finde ich es überhaupt überraschend, dass du mal wieder so scheinst, als hättest du das schon wieder vor mir gewusst?"
„Komm her." Er breitet die Arme aus und ich hätte mich in diesem Moment über nichts mehr freuen können, als eine Umarmung von Luan.
„Er engt dich ein." „Er engt mich so sehr ein", bestätige ich leise und löse mich wieder.
„Nicht, weil er mir etwas verbietet oder mich zu etwas drängt. Das ist es nicht. Kilian wäre der Letzte, der so etwas machen würde.
Es liegt an dem ständigen Kümmern. Ständig steht er auf der Matte und will wissen, ob es mir gut geht. Ob ich wieder schlechte Gedanken habe oder ob ich mich wieder mit der Vergangenheit konfrontiere. Ständig behandelt er mich, als wäre ich ein kleines depressives Kind und er der Psychologe und Arzt, der über alles Bescheid weiß. Aber so ist es nicht. Er hat doch keine Ahnung!"
Meine Stimme erhebt sich ungewollt und ich sehe mich kurz um, ob mir jemand zugehört hat, bevor ich wieder leiser spreche.
„Weißt du, warum Kilian es geschafft hat, die Last von mir zu nehmen, oder mir zumindest mal damit zu helfen, sie zu tragen? Warum er so eine Macht über meine Gedanken hatte und warum ich mich in ihn verliebt habe?
Wegen der Schwerelosigkeit. Dank ihm konnte ich mich mal frei und schwerelos fühlen. Dank ihm konnte ich mal loslassen und aufhören, meine Gedanken und Gefühle mich kontrollieren zu lassen. Immer, wenn ich bei ihm war und wir zusammen gelacht haben, wenn ich seine Nähe gespürt und seine Zuneigung genossen habe, war ich frei von allem." Ich streiche mir eine Träne aus dem Gesicht.
„Ich habe im Moment gelebt. Im Hier und Jetzt. Und das ist das entscheidende. Mein Kopf war weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft. Ich war zu 100 Prozent da, habe nur für den Moment gelebt und das ist die größte Freiheit, die du haben kannst. Frei von deinen eigenen Gedanken. Denn deine eigenen Gedanken und Erinnerungen sind die, die du jede Sekunde mit dir rumträgst und deshalb auch die, die dich jede Sekunde quälen können."
Ich fahre mir über das Gesicht und atme tief aus.
„Und nun ist aus Freiheit wieder Beschränkung geworden. Es tut mir weh und ich will nicht, dass es so ist. Doch ich weiß auch, dass es nichts ändern wird, wenn ich mit ihm spreche. Er wird mir sagen, dass er versuchen wird, es zu ändern und dass er sich doch nur Sorgen mache, aber die Freiheit kommt nicht mehr zurück. Ich weiß es.
Er hat begonnen mich und die Beziehung zwischen uns mit anderen Augen zu sehen. Er sieht alles als Aufgabe und Verantwortung und das lässt sich nicht mehr so leicht ändern."
Es herrscht für ein paar Momente Stille und ich genieße die Ruhe.
„Was hast du vor zu tun?"
Ich zucke mit den Schultern. „Ich hatte eigentlich auf einen Rat gehofft, aber Seelenverwandtschaft bedeutet wohl auch, dass du in manchen Momenten genauso ratlos bist, wie ich."
Es scheint das Erste Mal zu sein, dass ich einen überraschten Ausdruck in seinem Gesicht sehe und ich beginne zu lachen, bis auch er mir entgegen schmunzelt.
„Im Moment mache ich mir eigentlich mehr Sorgen um das große schwarze Loch, das sich wieder vor mir ausbreitet, aus dem ich gerade erst geschafft habe, rauszuklettern." Erschöpft schließe ich die Augen und lehne mich an Luans Brust, der mir beruhigend über das Haar streicht.
„Denn eines weiß ich; wenn ich da unten wieder angekommen bin, reiße ich die Beziehung und Kilian mit und das wird nicht gut enden."

Es kam also nicht nur einmal vor, dass ich mir in ganz schlimmen Momenten gewünscht habe, alles zu vergessen. Meine Erinnerungen zu löschen, wie eine Festplatte, und einfach neue sammeln zu können.
Wie oft habe ich gehofft, alles erlebte mit Milan, meiner Mutter, Levi und den anderen zu vergessen? So oft. So unfassbar oft, um dem Schmerz zu entkommen. Doch im Endeffekt wäre ich heute nicht die Alva, die ich bin, ohne meine Vergangenheit. Sind wir nicht alle die Summe dessen, woran wir uns erinnern? Und sind nicht Levi, meine Mutter und Milan deshalb ein Teil von mir? Schließlich trägt jeder einzelne die Ängste und Hoffnungen der Menschen, die einen lieben, in sich.
Und solange diese Erinnerungen in uns lebendig bleiben, ist niemand vergessen, denn eines ist klar; man ist erst richtig tot, wenn keiner mehr an dich denkt.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt