Und so vergehen die Tage.
Einer nach dem anderen, an dem ich allein mit Elijah und Noel in der Cafeteria sitze und dennoch glücklicher bin, als an manch anderen Tagen.
Einfach nur glücklich, weil er lebt.
Ein scheinbar ganz banaler Gedanke, doch in den letzten Tagen einer der bedeutendsten für mich.
Zeit vergeht ohne ihn, abendliche Ausflüge in Bars und Restaurants ohne ihn, langweilige Vorlesungen und witzige Mittage.
Ohne ihn.
Auch Elijah und Luan haben ihn nur einmal kurz besucht, nachdem sie unfassbar froh waren, mich wieder zu sehen.
Tatsächlich war das Wiedersehen emotionaler, als geplant. Mit Tränen in den Augen haben wir uns alle zusammen umarmt und so kitschig es auch klingen mag, es war schön.
Es war schön, wie sehr es sie berührt hat und wie sehr es auch mich berührt hat, sie überhaupt noch in die Arme schließen zu können.
Eine weitere eigentlich sehr banale Sache, die mir jedoch unfassbar viel bedeutet hat.
Manchmal müssen wir eben am Rande des Lebens stehen, um gewisse Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.
Obwohl ich den Unfall, wie aus einem Wunder heraus, beinahe unverletzt überstanden habe, hatte auch ich Todesangst. Auch ich habe dem Tod für eine Sekunde in die Augen geblickt, als der Wagen kurz davor war, uns zu rammen.
Und ich war auch diejenige, die im Wartezimmer saß und damit gerechnet hat, Kilian zu verlieren.
Vielleicht hätte ich Kilian nie mehr in die Augen sehen können und vielleicht hätte ich Luan und Elijah nie mehr erleichtert einen Kuss auf die Wange drücken können.
Irgendwie ist es schon seltsam, dass uns solche alltäglichen Dinge manchmal erst bedeutend erscheinen, wenn wir kurz davor waren, all das eventuell nicht mehr machen zu können. Wenn es uns beinahe genommen wurde.
Es vergehen etliche Tage ohne Kilian und obwohl ich ihn vermisse, habe ich ihn nicht mehr besucht.
Ich habe gemerkt, dass ich nicht wirklich erwünscht war, als seine Mutter drin saß und als sein Vater reingestürmt kam.
Auch Luan und Elijah haben ihn nur für ein paar Momente sehen können.
Ich lasse die paar Tage lieber seinen Eltern und ihm.
„Alles klar?", frage ich Luan lächelnd, als wir vor dem Saal stehen und er mich grinsend von der Seite anstarrt.
„Sorry. Ich freue mich bloß, dich anzusehen", sagt er leise und ich beginne aufzuquiken.
„Du bist so süß!"
Ich schließe ihn fest in die Arme, bevor ich auch Elijah, auf meiner anderen Seite, zu mir ziehe und einen Arm um ihn lege.
„Ich bin so froh euch zu haben, meine Jungs", lache ich und wuschle ihnen durch die Haare.
„Alva!", rufen sie beinahe zeitgleich und wir beginnen zu lachen, als sie sich die zerzausten Haare wieder richten.
Womit habe ich sie bloß verdient?
„Darf ich mit lachen?"
Beinahe synchron drehen wir uns alle um und ich kann meinen Augen kaum trauen, als ich in das braune Augenpaar sehe.
Mein erster Impuls ist es, Kilian um den Hals zu fallen und auf ihn zu springen, doch nachdem mir die Kratzer in seinem Gesicht auffallen, sehe ich auch den Gips um seinen linken Arm und das wird wohl kaum das einzige sein, was ihm wehtut.
„Ich freue mich so", rufe ich, als ich ihn vorsichtig in die Arme schließe und drücke ihm einen Kuss auf die Wange, bevor auch Elijah und Luan ihn freudig begrüßen.
Als sich die Türen zum Saal öffnen und die Menschen rein gehen, seufze ich auf und Luan versteht mich direkt.
„Auf geht's." Grinsend legt er einen Arm um Elijah, betritt mit ihm den Raum und schließt dann zwinkernd die Tür, bevor ich auch bloß auf die Idee kommen kann, ihnen zu folgen.
„Komm mit." Kilian greift nach meiner Hand und ich betrachte sie lächelnd, während er mich zum Ausgang zieht.
„Wie geht's dir?", will ich wissen und setze mich neben ihn auf die Mauer, ohne meinen Blick von ihm zu nehmen.
Er nickt langsam und lächelt mir dann entgegen.
„Alles im Rahmen. Sag mir lieber, wie es dir geht."
Er legt seine Hand an meine Wange und streicht mit seinem Daumen vorsichtig über den tiefen Kratzer über meiner Augenbraue, der geklebt werden musste.
Als sein Blick von meiner Wunde zu meinen Augen abweicht und ich meinen Blick nicht mehr abwenden kann, vergesse ich beinahe zu antworten.
„Bei mir ist alles gut."
Er atmet tief aus, nimmt seine Hand wieder zu sich und schaut geradeaus in den Himmel.
„Es tut mir leid, wegen meinen Eltern.
Ich wollte wirklich, dass du öfter kommen kannst, aber die beiden haben kaum mit sich reden lassen. Sie wollten keine Sekunde von meiner Seite weichen, dabei lag ich nicht mal im Sterben."
Kaum hat er das ausgesprochen, geht sein Blick zu mir und ohne etwas zu sagen, versteht er mich.
„Entschuldige. Jedenfalls darfst du das nicht persönlich nehmen.
Die beiden sind nicht immer so unfreundlich und ignorieren jeden, oder in dem Fall dich."
Er sieht auf seine gefalteten Finger hinab und macht eine kurze Pause.
„Bloß nach der Sache mit meiner Schwester haben sie noch größere Angst um mich, als sowieso schon."
Sein Blick trifft meinen wieder, während ich meinen kein einziges Mal von ihm abgewendet habe.
„Als wir am Abend im Hotelzimmer gelegen sind und über Schuldgedanken gesprochen haben, habe ich dir gesagt, dass das mit meiner Schwester eine andere Geschichte sei, die ich dir irgendwann erzählen werde.
Das ist komisch.
Ich lag da und ich habe mir vorgenommen, dir irgendwann in der Zukunft davon zu erzählen.
Irgendwann.
Und ein Tag später war es nicht mal sicher, ob ich überhaupt jemals wieder mit dir sprechen kann."
Ich wende den Blick ab und starre nachdenklich auf den gegenüberliegenden, kahlen Baum.
Ich hatte gehofft, mir keine Gedanken mehr darüber machen zu müssen.
Er atmet tief aus und beginnt dann zu sprechen:„Ihr Name war Jolie. Es war ihr zehnter Geburtstag.
Unsere Eltern waren geschäftlich unterwegs und sie wollte unbedingt, dass zwei Freundinnen bei ihr schlafen können. Also wollte ich ihr eine kleine Überraschung vorbereiten, indem ich die zwei Freundinnen zu uns bringe, alles dekoriere und ihr Geschenke kaufe.
Kannst du dich an das braunhaarige Mädchen erinnern, die wir bei Julians Feier tanzen gesehen haben? Die, die uns so komisch angesehen hat. Meine Ex."
Er sieht kurz zu mir rüber und ich nicke bloß, bevor er seinen Blick wieder in den Himmel richtet.
„Julia und ich haben das zusammen geplant und vorbereitet. Du musst wissen, dass sie ein großes Alkoholproblem hatte, wovon ich nichts wirklich wusste. Julia ist also mit Jolie zum Spielwarenladen gefahren, um sie aus dem Haus zu locken, damit ich schnell alles aufbauen und die zwei Mädchen holen kann." Er seufzt und macht eine kurze Pause. Die Vorahnung, die ich habe, lässt mich beinahe von der Mauer kippen.
„Schlussendlich habe ich statt einer überglücklichen Jolie, die das Haus betritt, die Nachricht erhalten, dass meine Schwester noch an Ort und Stelle starb, nachdem Julia betrunken in ein weiteres Auto gekracht ist."
Ich schlucke schwer und bin mir nicht sicher, ob mein Herz noch schlägt, als ich die Luft anhalte und seine Worte realisiere.
Seine Ex-Freundin hat Schuld daran, dass seine kleine Schwester tot ist und trotzdem saß er ruhig auf dem Sofa, während Julia wenige Meter weiter getanzt hat.
Ich will wissen, wie das sein kann, was das für Konsequenzen für sie hatte und 100 weitere Fragen stellen, doch ich bleibe still.
Zu schockiert bin ich.
„Der Gedanke daran ist komisch. Ich stand breit grinsend im Eingangsbereich. Mit einem großen Geschenk in der Hand und hinter mir etliche Luftballons und Musik, während meine kleine Schwester irgendwo auf der Straße lag, wie ein weggeworfenes Stück und das Leben aus ihr gewichen ist.
Allein, kalt, schmerzhaft.
Und ich konnte nicht bei ihr sein."
Und es ist auch komisch, dass ich auch ein Alkoholprobeleme hatte und deswegen ebenfalls jemand gestorben ist, kommt es mir in den Sinn.
Ohne ein Wort schließe ich ihn fest in die Arme und streiche langsam über seinen Rücken.
Es tut weh, sowas zu hören und es tut auch weh, ihn so zu sehen.
Er weint nicht, aber ich spüre, wie fertig es ihn macht, und das macht auch mich fertig.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...