31 - Angst

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„Noel?", frage ich vorsichtig, schiebe die Tür ein wenig auf und stecke meinen Kopf durch den kleinen Spalt, nachdem ich kurz geklopft habe.
Noel sitzt auf seinem Bett und schaut aus dem großen Fenster auf die befahrene Straße.
Als er mich hört, schaut er überrascht zur Tür. Es tut mir weh, selbst, wenn er einfach bloß da sitzt und raus sieht.
Es scheint, als wüsster er selbst nicht, was er mit sich anfangen soll.
„Darf ich rein kommen?"
Es ist seltsam, mich so zu verhalten. Als wäre ich eine Fremde, die hier bloß zu Besuch ist.
Normalerweise bin ich einfach in sein Zimmer reingelaufen, habe mich auf sein Bett geschmissen und irgendwas erzählt, während er gezockt oder ähnliches gemacht hat.
Und nun, in diesem Haus, klopfe ich unsicher an und frage, ob ich sein Zimmer betreten dürfe.
All der Streit hat uns voneinander entfernt und die Diagnose weckt teilweise das Gefühl in mir, ich muss ihn neu kennenlernen.
Es ist ein befremdliches Gefühl, wenn man bedenkt, dass ich über meinen Bruder spreche, mit dem ich durch dick und dünn, durch die schlimmsten und schönsten Momente gegangen bin.
Für eine Sekunde habe ich Angst, dass er mich anschreit, doch stattdessen sagt er ganz ruhig:„Ja."
Tatsächlich bin ich mir nicht sicher, wie die Lage momentan zwischen uns ist. Seit er in der Uni auf mich losgegangen ist, haben wir kaum mehr miteinander gesprochen.
Jeder war mit seinen eigenen Gedaken beschäfigt und unsicher, wie man nun mit der Situation umgehen soll.
Außerdem weiß ich nicht, ob er wirklich immer noch so sauer auf mich ist und ob der Junge, der so bösartig zu mir war, wirklich Noel war.
Tief einatmend setzte ich mich an die Kante seines Betts, während er mir im Schneidersitzt vom Kopfende aus entgegen sieht.
Ich kann seinen Blick nicht deuten, was mich noch nervöser macht.
„Wie geht es dir?", frage ich dann.
„Ganz okay", sagt er kurz und verschränkt seine Finger.
Es schmerzt, dass wir uns so verhalten. Dass wir tun, als würden wir den anderen erst seid gestern kennen.
Dass wir uns irgendwelche Fragen stellen und oberflächliche Antworten geben.
„Es tut mir leid", höre ich seine leise Stimme und ich sehe überrascht auf.
Sein Blick geht starr auf den Boden hinter mir.
Ich kann seinen Gesichtsausdruck weiterhin nicht deuten, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass in seinen Augen nichts außer Leere zu sehen ist. 
„Ich hätte dir nicht wehtun dürfen."
Er scheint ein bisschen mit sich selbst zu hadern und sucht die passenden Worte, bis er mehrere Sätze zusammenbekommt. 
„Die letzten Wochen war sehr ... verwirrend für mich.
Ich wusste nicht so recht, was ich glauben kann, was ich glauben soll und vor allem wem ich glauben kann.
Es sind so viele verschiedene Einflüsse auf mich eingeprallt von allen möglichen Personen, sodass es mir schwer fiel den Durchblick zu bewahren.
Nicht nur der Streit mit dir hat mich belastet.
Es sind noch so viele anderen Dinge geschehen, von denen du nichts mitbekommen hast.
Die ganzen Drogen, der ganze Stress, die ganzen Menschen, all die neuen Einflüsse, diese Angst.
Es hat mich überfordert. Schon wenige Tage, nachdem wir in Berlin angekommen sind, habe ich ein Mädchen kennengelernt. Wie aus dem Nichts hat sie mich verlassen, ohne richtigen Grund", sagt er fassungslos und mir kommen sofort die Worte von Aaron in den Sinn; Noel würde ständig neue Mädchen mitbringen, dass er Panik vor dem Alleinsein hat und wenn diese mit ihm nicht klargekommen sind, war das wirklich schlimm für ihn und hat ihn total verletzt, obwohl sie nicht mal zusammen waren.
„Ich habe für Laura wirklich so viel empfunden. Sie ..."
„Laura?" Der Name löst unterbewusst Alarmglocken in mir aus und mein Kopf fängt beinahe an zu Rauchen, so sehr durchforste ich mein Gedächtnis nach einer Laura.
Und als mir das kurze Gespräch mit Luan in den Sinn kommt, vor einem Kurs, fällt es mir ein. Es war einige Tage nach der Party bei Julian, die ich zusammen mit Kilian besucht habe. Die Party, bei der wir das Mädchen gesehen haben. Das braunhaarige, unschuldige Mädchen, tanzend, lachend, und anscheinend Schuld an dem Tod von Kilians Schwester.
Seine Ex Freundin.
„Ja. Sie hat auch begonnen, mir irgendwelche bescheuerten Sachen über dich zu erzählen. Schlechte Sachen. Sie hat dich gesehen, zusammen mit Kilian, auf dieser Party von irgendeinem Julian oder so.
Sie hat von deinem peinlichen Verhalten dort erzählt und andere Dinge über dich, die auch mich betreffen, so ähnlich wie Lorina und Noella.
Verstehst du mich nun ein bisschen besser? Ja, es war nicht gut auf dich loszugehen. Aber ich hatte meine Gründe, auch wenn sie die Aktion trotzdem nicht rechtfertigen. Wenn so viele Leute auf einen zukommen, die mir auch noch nahe stehen, und so einen Scheiß über dich erzählen, weckt das mein Misstrauen umso mehr. Eigentlich hätte das alles den Beschützerinstinkt in mir wecken sollen und ich hätte dich verteidigen sollen, anstatt auch noch gegen dich zu schießen, aber ..."
Plötzlich, von der einen auf die andere Sekunde, erkenne ich seine feuchten Augen, den leicht geöffneten Mund und diese Fassungslosigkeit, als hätte er erst vor einer Sekunde die Nachricht bekommen, dass er an einer Persönlichkeitsstörung leide. 
„Aber ich habe es nicht getan. Ich habe sie mich beeinflussen lassen."
Sein Blick trifft meinen und verschafft mir augenblicklich eine Gänsehaut. 
„Etwas stimmt wirklich nicht mit mir", wispert er. 
„Es ist okay", sage ich ebenso leise, wische mir die Träne aus dem Gesicht und nehme ihn langsam in die Arme.
Ich spüre Tränen an meiner nackten Schulter und auch ich kneife die Augen zusammen.
Seine eiskalten, großen Hände legen sich auf meinen Rücken und mir wird wieder einmal bewusst, wie sehr ich ihn vermisst habe. Wie sehr ich uns vermisst habe. 
„Es ist okay", flüstere ich erneut und vergrabe mein Gesicht in seinem Pullover. 
„Kannst du dich an unseren aller ersten Tag an der Uni erinnern, als wir hin gefahren sind und ich geparkt habe?"
Ich spüre seinen Kopf, der sich bewegt, und deute es als ein Nicken. 
„Ich war so unsicher und habe dich gefragt, ob du die Situation als ebenso falsch empfindest, wie ich das tat. Du hast gesagt, es gäbe nichts negatives an dieser Situation, da ich mir nur selbst im Weg stehe.
Und du hattest Recht. Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen, aber im Endeffekt hattest du Recht.
Nicht mein Umfeld entscheidet letztendlich über meine Gefühlslage, sondern ich.
Es ist nicht die Universität, das neue Haus oder mein Freundeskreis, der schlecht ist. Es ist meine eigene schlechte Einstellung, die mich oft daran hindert, etwas zu genießen.
Ich bin es, die mir im Weg steht."
Noel zieht mich enger an sich und ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.
Es ist paradox. Wir liegen uns nach Wochen, nach so langer Zeit endlich wieder in den Armen, was mich unfassbar freut und gleichzeitig kam das nur zustande, weil wir nun alle die Gewissheit haben, dass Noel an BPS leidet.
„Gehst du zur Therapie?", frage ich nach ein paar Momenten Stille und warte einige Sekunden, bis ich eine Antwort erhalte. 
„Ich habe Angst."

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt