Es ist ungewohnt.
Es ist ungewohnt, wenn Kilian während dem Laufen seinen Arm um mich legt und mich kurz zu sich zieht, um mir einen Kuss auf den Scheitel zu drücken.
Ungewohnt, wenn wir mit Elijah und Luan zusammen in der Cateferia sitzen und er seine Hand auf meinen Oberschenkel legt und mich kurz angrinst, wenn ich zu ihm sehe, oder, wenn er mich mit einem Kuss begrüßt und verabschiedet.
Nur ein kurzer auf die Stirn oder den Mund, mehr nicht, seit unserem intensiven Kuss vor drei Wochen.
Es überrascht mich etwas, dass er dann doch so zurückhaltend ist, dennoch finde ich es gut so, wie es ist.
Ich glaube auch nicht, dass es daran liegt, dass er schüchtern ist. Viel eher daran, dass er mich nicht einengen und überfordern will.
Ob ich nun diese Gesten an sich ungewohnt finde oder die Tatsache, dass es Kilian ist und nicht Milan, weiß ich nicht. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
Auch Luan und Elijah haben schon hin und wieder kurz Blicke ausgetauscht, als sie mitbekommen haben, dass Kilian mich öfter zu sich zieht und länger in den Armen hält wie gewöhnlich, doch angesprochen hat es keiner. Zumindest nicht in meiner Gegenwart.
So kitschig es auch klingen mag, dass es seit diesem Kuss so ist, doch diese drei Wochen waren mit die Besten in den letzten Monaten. Klar hatte ich auch vereinzelte tolle Tage. Aber dass ich mich mal durchgehend einfach besser gefühlt habe, kam nicht wirklich vor.
Ich bin nicht plötzlich von all meinen Sorgen befreit, aber es fühlt sich besser an und ich habe tatsächlich das Gefühl, die Momente viel intensiver zu leben. Ich liebe es mit den Jungs zusammen etwas zu unternehmen und den ganzen Abend zu lachen und ich liebe es auch mit Kilian allein etwas zu essen oder in den Park zu gehen, in dem wir uns das erste Mal getroffen haben und später erneut dort waren und über Noel geredet haben.
Der Kuss scheint eine Barriere in mir gelöst zu haben, die mich immer daran gehindert hat, auf ihn zuzugehen. Aber nun kann ich diesen Schritt auf ihn zugehen, oder vielleicht auch zwei.
Plötzlich ist da nicht mehr so eine große Mauer, die ich mich nie getraut habe zu überwinden, um ihn auf der anderen Seite zu treffen.
Natürlich kann ich nicht plötzlich komplett auf ihn zu gehen und Milan vergessen. Es fällt mir immer noch etwas schwer diese Sache mit ihm einzugehen und mich fallen zu lassen, weswegen ich auch einfach Zeit brauche.
Es scheint auch so, als würde ich ihn erst jetzt richtig kennenlernen, gerade weil ich mich nie richtig auf ihn einlassen konnte.
Es ist ein komisches Gefühl, doch gleichzeitig auch unfassbar schön, diese Nähe zu spüren.
„Was für ein scheiß Tag", mault Kilian und spannt den schwarzen Schirm auf, um uns vor den Regentropfen zu schützen, die sich heute zum wiederholten Male auf den Weg nach unten machen.
Ich hake mich bei ihm ein und wir laufen den leeren Weg des Uni Geländes entlang.
„Und schon ist die schöne Zeit des Jahres wieder vorbei", seufze ich und sehe geknickt in den grauen Himmel.
„Fängt sie nicht gerade erst an?"
Fragend sehe ich zu ihm und verstehe erst, was er meint, als ich sein freches Grinsen sehe.
Ich lache auf und lehne meinen Kopf kurz an seine Schulter, bevor wir vor der Tür zum Stehen kommen und er den Schirm wieder schließt, um ihn kurz auszuschütteln.
„Ich begleite dich noch hoch." Er betritt nach mir das Gebäude und wir wischen unsere Schuhsolen auf dem kleinen Teppich ab, bevor er mir die Treppen hoch folgt.
„Was ist eigentlich mit Lorina und Noella? Ich sehe die beiden kaum noch. Um ehrlich zu sein habe ich Noella sogar seit der Eskalation mit deinem Bruder nicht mehr gesehen."
Ich zucke mit den Schultern und rede etwas lauter, damit er mich trotzdem noch verstehen kann, auch wenn ich nicht in seine Richtung spreche.
„Ab dem Tag hat Noella nicht mehr in unserem Zimmer geschlafen. Einige Sachen haben gefehlt und vor ein paar Tagen kam ich zurück und plötzlich waren sogar ihre ganzen Dinge weg." Erneut zucke ich mit den Schultern. „Ich habe das Gefühl, die ganze Sache war ihr dann doch unangenehmer, als sie dachte. Und Lorina interessiert es wahrscheinlich einen Scheiß."
Als wir im zweiten Stock ankommen greift Kilian nach meiner Hand und wir schlendern weiter zu meinem Zimmer.
„Na, dann kann ich ja jetzt bei dir einziehen."
Ich schmunzle und verdrehe kurz die Augen.
„Das ist natürlich wieder das Einzige, an was du denkst."
Er sticht mir kurz spielerisch in die Seite und legt dann seinen Arm um mich.
„Nein, im Ernst. Die beiden haben dich seit dem nicht mehr angesprochen und das ist auch gut so, denn eines kann ich dir versprechen. Sollte sowas wieder vorkommen, sind sie dran.
Mir egal, dass es Mädchen sind, wenn sie meinem Mädchen weh tun."
„Das war jetzt wirklich kitschig", meine ich amüsiert und lächle ihn an, als wir vor der Tür zum Stehen kommen und uns zueinander drehen.
„Ich weiß, aber manchmal weckst du die kitschige Seite in mir", erklärt er grinsend und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
Als er sich wieder löst, ist das Lächeln auch schon wieder weg. Stattdessen sieht er etwas nachdenklich an mir vorbei.
Gerade, als ich fragen will, ob alles in Ordnung ist, beginnt er zu sprechen.
„Ich bemühe mich wirklich, alles richtig zu machen, Alva."
Ich ziehe etwas die Augenbrauen zusammen und lege den Kopf schief, während er immer noch an mir vorbei sieht.
Ich bin überrascht, dass er plötzlich dieses Thema anschneidet und wusste auch nicht, dass er sich anscheinend so viele Gedanken dazu macht.
Etwas durcheinander lege ich meine Hand an seine Wange, bis sein Blick wieder meinen trifft.
„Du machst nichts falsch, Kilian. Wie kommst du denn plötzlich darauf?"
Er seufzt und ich greife wieder nach seiner Hand.
„Ich will dich nicht einengen. Ich will nichts überstürzen oder etwas machen, was du nicht willst, so wie nach Julians Party damals. Irgendwie habe ich immer Angst, dass du plötzlich nicht mehr willst.
Dass sich plötzlich wieder ein Schalter in dir umlegt und du dich fragst, was für einen Blödsinn du da schon wieder mit mir gestartet hast. Verstehst du, was ich meine?"
Er atmet durch und ich sehe tatsächlich in seinen Augen, wie unruhig er deswegen ist.
„Ich kann dich manchmal nur noch nicht genug einschätzen und ich denke du bist auch einfach schwer einzuschätzen, weil sich so viel in dir ständig bewegt und dreht.
Das klingt jetzt vielleicht dumm, aber... "
„Nein, überhaupt nicht", unterbreche ich ihn und schüttle überzeugt den Kopf, denn tatsächlich verstehe ich ihn besser, als ich zuerst dachte, da er Recht hat. In mir und in meinem Leben dreht sich ständig etwas, sodass ich selbst kaum weiß, was morgen oder in fünf Minuten ist. Ich kann mich selbst nicht einschätzen und deswegen will ich ihm auch nicht versichern, dass er sich keine Gedanken darüber machen muss.
„Du machst nichts falsch. Wirklich."
Er nickt langsam und ich muss lächeln, als sich seine Mundwinkel hoch ziehen und unser Blickkontakt nicht abbricht.
„Weißt du, es fällt mir wirklich nicht leicht das alles so langsam angehen zu lassen.
Ich würde dich am liebsten nehmen, in das Zimmer gehen, abschließen, dich aufs Bett werfen, dich küssen, bis ich nicht mehr kann und gar nicht mehr raus kommen, und das nicht erst seit drei Wochen.
Es fällt mir wirklich schwer, die Finger von dir zu lassen, aber ich weiß, dass du Zeit brauchst und dass es dir in der Öffentlichkeit noch unangenehm ist.
Ich gebe dir die Zeit, Alva. Alle Zeit der Welt."
Ich kann nicht mehr aufhören zu lächeln, während er spricht. Ich kann nicht mehr aufhören ihn anzusehen und ich kann nicht mehr aufhören mich zu fragen, wie ich jemanden wie ihn verdient habe und wie jemand so tolles jemanden so komplizierten wie mich mögen kann.
„Und ich weiß, dass vor allem Milan der Grund dafür ist."
Als der Name fällt, schlucke ich schwer und merke, wie ich für den Bruchteil einer Sekunde wieder hinter der Mauer stehe.
„Aber das ist okay für mich. Es ist okay, Alva. Ich weiß, was er dir bedeutet hat und was er dir immer noch bedeutet. Ich weiß, wie stark eure Liebe war und ist und ich weiß was für einen großen Platz er immer noch in deinem Herzen hat. Im Prinzip habt ihr euch ja nie getrennt. Ich verstehe es. Wirklich.
Und ich sage nichts dagegen, auch wenn ich weiß, dass mein Platz noch nicht so groß ist und dass ich ihn wahrscheinlich immer mit ihm teilen werden muss. Solange ich wenigstens überhaupt dort drin bin", sagt er und drückt seinen Zeigefinger gegen mein Herz, „bin ich glücklich."
Seine letzten Worte sind so leise, dass ich sie kaum noch höre und ich schließe ihn in eine feste Umarmung, damit er meine glasigen Augen nicht sieht.
Ich weiß nicht, warum ich weine.
Weil ich glücklich bin, ihn zu haben, weil ich mich über sein Verständnis freue oder weil ich hier auch gerne mit Milan stehen würde.
Ich weiß es nicht.
Aber was ich weiß, ist, dass ich in diesem Moment tatsächlich das erste Mal wirklich überzeugt davon bin, dass es funktionieren kann.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...