22 - Alkohol

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Wenn ich genau so über dich denken würde, wie du über dich selbst denkst, würdest du mich dann überhaupt noch an deinem Leben teilhaben lassen?
Immer und immer wieder lasse ich mir diese Frage durch den Kopf gehen.
Ich weiß nicht, wie lange Kilian schon weg ist und wie lange ich schon mit dem Blick an die Wand auf derselben Couch sitze.
Er hat mich mit dieser Frage hier sitzen lassen und ist ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer gestürmt.
Nicht mal der laute Knall der Tür hat eine Regung meines Körpers hervorgerufen.
Stattdessen fühle ich mich wie versteinert, seit er mir all diese Dinge an den Kopf geworfen hat.
Wenn ich genau so über dich denken würde, wie du über sich selbst denkst, würdest du mich dann überhaupt noch an deinem Leben teilhaben lassen?
Würde ich das? Würde ich überhaupt noch mit ihm sprechen, wenn er so über mich denken würde, wie ich es selbst tue?
Wenn er alles laut aussprechen würde, was ich denke?
Ich würde morgens in den Kursraum laufen und er würde mich mit einem Lächeln begrüßen und sagen:„Heute siehst du wirklich besonders beschissen aus, aber die Maske aus Klamotten und Schminke, die du dir vorhin eine Stunde lang gezaubert hast, retuschiert das meiste."
Ich würde während der Professor spricht neben Kilian sitzen und nach vorne starren, bis er mir ins Ohr flüstert:„Du kommst dir fehl am Platz vor, ich weiß. Du verstehst kein Wort, kommst dir dumm und zu nichts zu gebrauchen vor. Hast keine beruflichen Ziele in der Zukunft, weil du dir nichts zutraust und nicht die hellste Kerze auf der Torte bist."
Später würden wir in der Cafeteria sitzen, reden und essen. Er würde neben mir hocken, sich zu mir lehnen und sagen:„Es ist schon komisch, dass alle immer denken, du bist so toll und selbstbewusst, ja fast schon arrogant. Slebstverliebt.
Doch in Wirklichkeit sitzt du hier, schaust den natürlich hübschen Mädchen eifersüchtig hinterher und redest dir ein, dass der Schokoladenpudding, den du isst, ja bloß eine Ausnahme ist und gar nicht so dick macht."
Am Abend würde Kilian mich zu meinem Zimmer begleiten, mich zum Abschied umarmen und sagen:„Jetzt, wenn du rein gehst, schminkst du dich schnell ab, ziehst dich um und gehst sofort schlafen, da es dir sogar unangenehm ist, so vor Noella aufzutreten, weil du dich irgendwie hässlich findest.
Und dann liegst du doch noch eine Ewigkeit da, badest in Selbstmitleid und weinst dich in den Schlaf, bis Noella zu später Stunde wieder kommt.
Trauerst Milan und deiner Mutter nach, als könntest du etwas daran ändern.
Wartest Tag für Tag, dass der Schmerz von allein besser wird, trägst aber nichts dazu bei, sondern drehst dich ständig im Kreis.
Gute Nacht und schlaf gut, Alva."
Würde ich ihn überhaupt noch ansehen können, wenn er so über mich denken würde?
Nein.
Jeder hätte ihn schon längst aus seinem Leben gekickt.
Vielleicht sogar gehasst, weil er so böse ist, obwohl es nur die Wahrheit ist.
Ich lache in mich hinein und wische mir die Tränen weg.
Es ist lustig, dass wir Menschen so darauf reagieren würden, obwohl es noch viel schlimmer ist, wenn wir selbst solche Dinge über uns denken.
Unsere eigene Meinung über uns selbst ist die wichtigste von allen und sie sollte an erster Stelle stehen.
Doch wenn wir so eine negative Meinung über uns selbst haben, stoßen wir Leute von uns, die genauso über uns denken, anstatt es einzusehen und unsere eigene Meinung zu ändern.
Und als meine Tränen getrocknet sind, als der Klos in meinem Hals verschwindet und als ich das Gespräch revue passieren lasse, schwenkt die Trauer in Wut um.
Plötzlich machen mich diese Gedanken wütend.
Plötzlich machen mich Kilians Worte, seine Vorwürfe und seine laute Stimme wütend.
Es macht mich wütend, dass er so über mich gesprochen hat und sich etwas darauf einbildet, als wären wir ein Paar.
Wutentbrannt stehe ich auf, lasse meine Cola zurück und stoße beinahe gegen Kilian, als ich aus dem Raum stürme.
Für einen kurzen Moment sind wir beide überrascht und als er den Mund öffnet, lasse ich ihn nicht zu Wort kommen.
Stattdessen ziehe ich die Augenbrauen zusammen und richte meinen Zeigefinger auf ihn.
„Bilde dir nicht zu viel ein, Kilian.
So lange kenne wir uns nun auch nicht, dass du auch bloß ansatzweise eine Ahnung davon hast, wie ich mich fühle oder wer ich bin.
Du bist nicht mein Vater, dass du mir auch nur irgendwas zu sagen hast!"
Kilian ist sichtlich überrascht über meine laute Wortwahl und bekommt seinen Mund kaum mehr zu.
„Nur, weil wir uns ein bisschen näher gekommen sind, musst du dir nicht einreden, du hättest irgendein Recht darauf, dass ich dich besonders behandeln muss!
Ich brauche deine Hilfe genauso wenig wie dein Mitleid.
Benimm dich nicht wie ein Psychologe, der mir mit meinen Problemen helfen muss.
Ich weiß selbst, was für mich am Besten ist und was nicht und dann brauche ich niemanden, der irgendeinen Unsinn an mich ran redet!"
Tränen vor Wut lassen mein Sichtfeld verschwommen wirken, als ich den Flur und die Treppen runter maschiere und dabei fast gegen ein Mädchen laufe.
Der künstliche Nebel macht es nicht besser und ich quetsche mich durch die tanzenden Studenten, die mich immer wieder anrempeln.
Als ich in der offenen Küche ankomme, muss ich mich erstmal an der Arbeitsplatte abstützen und schließe für einen Moment die Augen, um wieder runterzukommen.
Ich atme tief ein und aus und bin selbst überrascht, woher all diese Worte kamen.
Als ich alle Tränen wieder weggeblinzelt habe, entdecke ich einen Jungen am anderen Ende der Küche und laufe gezielt auf ihn zu, als ich sehe, was er in der Hand hat.
„Schütt' mal bitte rein", sage ich und stelle ihm einen weißen Pkastinbecher hin, die hier massenweise rumliegen.
Als er mich bemerkt, mustert er mich einmal von oben bis unten, bevor er mir großzügig Vodka einschenkt.
Als er zu etwas anderem greifen will, um es zu mischen, hebe ich die Hand.
„Pur", lehne ich ab, danke ihm, laufe wieder ans andere Ende der großen Küche und hieve mich auf die Arbeitsplatte hoch.
Von hier aus kann ich die Party, die schon in vollem Gange ist, beobachten.
Mit ruhigem Atem starre ich auf die Flüssigkeit, als würde sie mit mir sprechen.
Ich schwenke den Vodka hin und her und rieche einmal daran.
Noch bevor ich drüber nachdenken oder einen Rückzieher machen kann, setze ich an und lehne meinen Kopf immer weiter in den Nacken, bis auch der letzte Rest in meinem Mund verschwunden ist.
Das Brennen in meinem Hals erinnert mich an so viele Dinge.
An schreckliche, schreckliche Dinge.
Meine Mutter kommt mir in den Sinn.
Mein Vater und Noel.
Alle tauchen vor meinem inneren Auge auf, erinnern mich an die schlimme Zeit, die ich mit dem Alkohol hatte und was ich dadurch ausgelöst habe.
Dennoch können sie mich nicht davon abhalten, erneut zu dem Jungen zu laufen und mir diesmal selbst ein paar Shots einzuschenken.
Ich weiß nicht, wie viel ich im Endeffekt getrunken oder was ich alles getrunken habe.
Spätestens, wenn ich mich übergeben muss, wird mir klar werden, dass ich zu viel durcheinander getrunken haben.
Dadurch, dass ich seit einem Jahr keinen Tropfen mehr auch nur angerührt habe, spüre ich den Alkohol verhältnismäßig schnell und das nicht zu wenig.
Es dauert nicht lang, bis alles in mir durcheinander gerät und ich weder klar handeln, noch klar denken kann.
Irgendwie habe ich das Gefühl vermisst, wenn meine Sicht und meine Gefühle verschwimmen.
Ich muss kichern und quetsche mich erneut durch die Leute, die von Minute zu Minute mehr werden.
Die Wut und die Trauer spüre ich kaum noch und kann mich stattdessen ein wenig schwerelos fühlen.
Ich will an keine Konsequenzen denken oder daran, dass ich wieder in alte Muster verfalle.
Ich will lieber hier mittendrin stehen, die viel zu laute Musik hören, die bunten Lichter wie Sterne am Himmel sehen, den Bass spüren und die Menschen, die mich immer wieder anrempeln.
Müde und aufgedreht zugleich schließe ich die Augen und wiege mich einfach nur im Takt hin und her.
Das letzte Mal, als ich dieses Gefühl hatte, habe ich erfahren, dass meine Mutter gestorben ist.
Eine Gänsehaut bildet sich auf meinem Körper, doch nicht einmal die spüre ich richtig.
Im selben Moment, als ich meine Augen wieder öffne und über die Menge hinweg sehe, erwidert plötzlich ein Augenpaar meinen Blick.
Ich brauche einige Momente, bis ich mein Sichtfeld scharf stellen kann und als ich Kilian erkenne, der sich nach und nach durch die Leute drängt, um zu mir zu kommen, nehme ich die wenige Kraft, die ich im Moment habe, zusammen und schiebe ebenfalls die Leute zur Seite.
Das letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann, ist eine erneute Auseinandersetzung mit Kilian.
Wobei, alle guten Dinge sind drei. Vielleicht würde die dritte Diskussion gut laufen.
Ich kichere über meinen Witz und versuche schneller zu laufen.
Als ich nach hinten schaue, um zu sehen, wie nah mir Kilian ist, stolpere ich und gehe beinahe zu Boden.
„Alva?"
Ein verwirrter Elijah mit Händen in den Hosentaschen sieht mir entgegen, als ich wieder sicher auf zwei Beinen stehe.
„Elijah!"
Fröhlich über meinen Fund, packe ich ihn am Arm und ziehe ihn mit mir in eine Art Flur.
Als ich mit großen Augen hinter uns blicke und gleichzeitig beinahe jogge, zieht er seine Augenbrauen nur noch enger zusammen.
„Wohin gehen wir?"
Als Antwort zucke ich bloß mit den Schultern, weil ich mich hier absolut nicht auskenne und einfach nur vor Kilian weglaufen will.
Am Ende des Flurs leuchtet mir eine Straßenlaterne durch das große Fenster entgegen.
Ich steuere darauf zu und stoße dann die Tür links davon auf.
So schnell ich kann, zerre ich auch Elijah hinein und schließe die Tür wieder.
„Was -"
„Psht!", sage ich leise und halte meinen Zeigefinger vor den Mund, obwohl er das aufgrund der Dunkelheit nicht einmal sehen kann.
Lachend suche ich nach dem Lichtschalter und Taste die Wand ab, doch Elijah kommt mir zuvor.
Ein kleiner Kronleuchter flackert auf und das gedimmte Licht leuchtet das große Zimmer kaum aus.
Das gemachte Bett und die unpersönliche Einrichtung spricht für ein Gästezimmer.
„Auf was läuft das hier hinaus?", will er wissen, während ich den Schlüssel so lange im Schloss hin und her drehe, bis ich vermute, dass abgeschlossen ist.
„Ich bin vor Kilian geflüchtet", kichere ich und bringe ihn damit zum Lachen.
„Und was habe ich damit zu tun?"
„Sich zu zweit in einem Zimmer einzusperren ist besser, als allein", grinse ich, nehme erneut seine Hand und laufe zu dem großen Bett, auf das ich mich mit ausgestreckten Armen fallen lasse.
„Bist du nicht eigentlich wütend auf mich?"
Ich runzle die Stirn und hebe meinen Kopf, damit ich Elijah ansehen kann, der am Fußende hockt.
„Ja, stimmt. Habe ich total vergessen."
Kopfschüttelnd grinst er mir entgegen.
„Aus welchem Grund flüchtest du vor ihm?"
Weil ich betrunken bin und mir zwei eskalierte Gespräche für heute reichen.
„Habe jetzt keine Nerven für ihn."
„Aber für mich?"
Als ich mich aufrichte, sieht er mir mit einem undefinierbaren Blick entgegen.
„Wieso bist du so eifersüchtig? Und warum hast du mir so komische Sachen bei der Party letztens gesagt? Und warum bist du an Luans Geburtstag so ausgeflippt?"
Ich wünschte, ich hätte diese direkte Ehrlichkeit auch, wenn ich nüchtern wäre.
Seine Mundwinkel zucken kurz nach oben und die Fragen scheinen ihn kaum zu überraschen.
„Ich weiß auch nicht, warum ich momentan so leicht reizbar bin.
Irgendwie hat mich diese Stimmung zwischen Kilian und dir genervt."
Er scheint für einige Momente zu überlegen, weicht aber nicht von unserem Blickkontakt ab.
„Auf der einen Seite freut es mich für euch, wenn ihr euch so gut versteht, schließlich gönne ich euch alles Gute.
Andererseits war es schwierig, weil ich dich wahrscheinlich einfach zu gut finde."
Die Art, wie er das sagt, dieses minimale Lächeln auf dem Gesicht hat und mich so eindringlich anschaut, löst ein angenehmes Gefühl in mir aus und ich rücke ein paar Zentimeter weiter vor, sodass sich der Abstand zwischen unseren Gesichtern verringert.
Sein Blick löst sich das erste Mal für eine Sekunde von meinem und landet stattdessen auf meinen Lippen.
Nur so kurz, dass ich mich frage, ob ich mir das eingebildet habe.
Auch er lehnt sich langsam vor und stützt sich mit seinen Händen auf dem Bett neben meinen Beinen ab.
Dabei sieht er nicht ein Mal weg.
„Du hast getrunken."
„Nein, habe ich nicht", lüge ich frech.
„Ich kann es riechen, Alva."
Grinsend verdrehe ich die Augen, halte mir eine Hand vor den Mund und bringe ihn damit zum Lachen.
Auch ich fange an und sein tiefes Lachen verschafft mir eine angenehme Gänsehaut.
Das letzte, kleine nüchterne Stück von mir würde mich dafür gerne schlagen, aber meine Gefühle fahren im Moment Achterbahn und der Alkohol bringt mich immer mehr zum Schwitzen.
Oder Elijah.
Wahrscheinlich die Kombination aus beidem.
So verschwommen meine Gefühle auf der Tanzfläche eben noch waren, umso intensiver sind sie jetzt.
Mit einem weiterhin eindringlichen Blick nimmt er meine Hand und führt sie langsam von meinem Mund weg.
Seine blonden Haare sind locker nach oben gestylt und bloß eine einzelne Strähne fällt ihm in die Stirn.
Ich starre sie an und meine Hand zuckt für einen Moment, aber der letzte Rest meines Verstandes bringt mich davon ab, sie zur Seite zu streichen.
Als mein Blick wieder zu seinen Augen wandert, dann zu seinen grinsenden Lippen und dann wieder zu seinen Augen, überbrücke ich das letzte Stück zwischen uns und lege meine Lippen viel zu stürmisch auf seine.
Durch den Alkohol verliere ich allmählich das Feingefühl.
Der letzte Rest meines Verstandes schreit mich an, ich solle sofort zurückweichen, mich entschuldigen und gehen.
Doch stattdessen wird der Kuss immer intensiver.
Seine Hand streicht meinen Rücken langsam hoch, während meine durch seine weichen Haare fahren.
Die Hitze wird noch unerträglicher, das Kribbeln überall verstärkt sich und alles in meinem Kopf dreht sich.
Kilian, Milan, Noel und alle anderen tauchen vor meinem inneren Auge auf, doch nichts dringt zu mir durch.
Ich bin wie benebelt von dem Kuss und kann nicht mehr klar denken.
Auch, als er mich sanft nach hinten drückt und über mir landet, nachdem ich mich auf den Rücken gelegt habe, unterbreche ich den Kuss nicht.
Erst, als er sich prompt von meinen Lippen löst und sich wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, öffne ich verwirrt die Augen.
„Wir sollten das nicht tun."
Ich merke, dass das, was da aus ihm spricht, bloß sein Verstand ist.
Seine Körpersprache zeigt eindeutig, dass er das will.
„Du hast getrunken. Ich will dich nicht für irgendwas ausnutzen."
Meine Gesichtszüge entspannen sich wieder und meine Mundwinkel ziehen sich hoch.
„Tust du nicht", flüstere ich, lege meine Hand an seine Wange und er lächelt zurück, bevor er seine Lippen wieder auf meine legt.


Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt