2 - Beginn

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„Bist du schon aufgeregt?" Mit dem Blick auf der Straße biege ich ab und sehe kurz zu Noel rüber, als er antwortet:„Überhaupt nicht, habe schon jemanden kennengelernt, als ich gestern unterwegs war. Er geht auch auf die Uni."
Überrascht sehe ich wieder auf den Weg vor uns.
„Wow, schön zu hören. Dann kennst du wenigstens schon jemanden." Mit diesen Worten fahre ich auf den Parkplatz der Universität, an der ich ab jetzt sehr viel Zeit verbringen werde.
Menschen tummeln sich schon vor dem Eingang, auf dem Parkplatz und dem Gehweg. Tief einatmend lehne ich mich in den schwarzen Ledersitz zurück.
„Mach dir keine Sorgen, Alva. Sei einfach du selbst und dann wirst du schnell Freunde finden, glaub mir." „Das ist es nicht, Noel", antworte ich auf den Versuch meines Bruders, mich aufzuheitern.
„Kommt dir das nicht auch alles so falsch vor?" Total überfordert sehe ich an die Decke, während Noel aussteigt. Ich mache es ihm nach, ziehe meinen Zopf noch einmal enger und schließe dann die schwarze Autotür.
Die Sonne verbirgt sich hinter einer weißen Wolke, genau wie meine Freude sich hinter meiner Angst und Unsicherheit verbirgt.
„Es ist nicht falsch", meint Noel und zieht seinen Koffer aus dem Wagen, „nur stehst du dir selbst im Weg. Es gibt nichts negatives an dieser Situation gerade, das weißt du. Die Uni sieht toll aus, wir leben in einem neuen Haus in einer neuen Stadt. Bleib' ruhig."
Damit schiebt er mir meinen blauen Koffer hin, verabschiedet sich und macht sich auf die Suche nach seinem Zimmer.
Tatsächlich haben wir uns dafür entschieden, auf den Campus zu ziehen, obwohl das Anfangs für uns ausgeschlossen war. Eigentlich war es eher für meinen Vater ausgeschlossen, denn ich kann momentan nicht genug Abstand zu ihm bekommen. Ich liebe ihn mehr als alles andere, aber er erinnert mich zu sehr an meine Mutter. Er erinnert mich an das, was fehlt. Wenn ich ihn sehe, sehe ich auch, dass das Bild nicht komplett ist. Dasselbe gilt für meine ehemaligen Freunde, denn seit dem Tod von Milan habe ich mich auch von ihnen distanziert. Es war dasselbe, wie bei meinem Vater. Sie haben mich immer an ihn erinnert, denn es waren auch seine engsten Freunde. Der Kreis war nicht mehr komplett und das habe ich jedes mal gesehen.
In Gedanken schließe ich das Auto ab, verstaue den Schlüssel in meiner Handtasche und ziehe gleichzeitig den Zettel raus, der mich hoffentlich zu meinem Zimmer führt.
Der Campus ist riesig und die Leute scheinen teilweise genauso orientierungslos wie ich. An einem Brunnen, in Mitten einer Wiese, bleibe ich stehen und sehe die Bänke neben dem großen Baum an. Dort werde ich in Zukunft öfter mal sitzen.
„Sieht schön aus, oder?" Erstmal nehme ich die männliche Stimme gar nicht wahr, doch als mich eine Person neben mir ansieht, wache ich aus meinem Tagtraum auf. Ein blonder Junge sieht mich aus seinen dunkeln Augen an und lächelt breit. Nach kurzem Innehalten antworte ich:„Äh, ja. Ist sehr schön." Mit den Händen in den schwarzen Hosentaschen sieht er wieder zu dem Brunnen und betrachtet die Frau aus Stein, an der das Wasser hinab läuft. „Ich bin übrigens Elijah Balke", stellt er sich vor und streckt mir die Hand hin. Ich nehme meine vom Griff des Koffers und reiche sie ihm. „Alva Böhm", sage ich lächelnd.
Mit einem Blick auf den Zettel in meiner Hand scheint er mein Vorhaben zu verstehen. „Kann ich dir helfen?" Nickend reiche ich ihm das Blatt und nach kurzem Lesen läuft er los. Ohne Worte folge ich ihm und betrachte weiterhin den einschüchternden Campus.
„Wie lange bist du schon an der Uni? Du kennst dich so gut aus", will ich wissen und sehe kurz zu Elijah, der ohne jegliche Taschen unterwegs ist. „Seit knapp einer halben Stunde." „Oh", gebe ich leise von mir und stelle fest, dass ich mich in dem Gedanken, dass er schon mindestens ein Semester hier ist, geirrt habe.
„Da vorne müsste es sein", sagt der Blondschopf und zeigt geradeaus. „Was ist dein erster Kurs nachher?" „Deutsch, soweit ich weiß." Elijah klatscht einmal in die Hände und zerschlägt dabei beinahe das Papier. „Perfekt, dann sehen wir uns da wieder." Mit diesem Satz erreichen wir das passende Gebäude und er reicht mir den Zettel wieder. „Danke für die Hilfe."
Sichtlich erleichtert lächle ich ihn an, was er erwidert. „Nichts zu danken. Man sieht sich später, Alva." Winkend läuft er davon und ich lache ihm noch hinterher, bevor ich leicht nervös das Gebäude betrete. Elijah scheint unglaublich nett zu sein, doch die Hoffnung, dass alle hier so freundlich sind, verwerfe ich schnell wieder.

Mit einem leichten Quitschen öffne ich die Holztüre und strecke den Kopf ins Zimmer. Ein rothaariges Mädchen richtet sich aus der Hocke auf, lässt von ihrer Reisetasche ab und dreht sich überrascht zu mir, während ich meinen Koffer in den Raum schiebe.
„Oh, hallo!" Mit einem Lächeln kommt sie auf mich zu und nimmt mir netterweise die Handtasche ab, als sie mir beinahe auf den Boden fällt. Mühsam schiebe ich den Koffer weiter, bis ich die Türe schließen kann. „Hey, ich bin Alva Böhm", stelle ich mich vor und sie reicht mir meine Tasche mit einem Lächeln wieder.
„Noella Kampe. Wir sind dann wohl Zimmermachbarn", stellt sie fest und lässt sich auf ihr Bett neben dem Schrank fallen. „Ich hoffe du bist zufrieden mit dieser Seite." Noella deutet auf das große Fenster und das Bett, das daneben steht. „Auf jeden Fall!"
Durchaus zufrieden lasse ich mich auf das weiß bezogene Bett fallen und sehe aus dem rechteckigen Fenster, dass vom Boden bis fast zur Decke reicht. Als ich sehe, dass nur einige Meter weiter der kleine Park ist und ich eine perfekte Sicht darauf habe, springe ich mit einem breiten Lächeln auf und trete näher an das Glas.
„Ich störe dich dann nicht weiter beim Auspacken, bis später!" Noella packt ihren Rucksack vom Boden, öffnet die Tür, winkt mir noch zum Abschied und lässt ein kleines Chaos auf ihrem Bett zurück.
Auch wenn es mir etwas schwer fällt, mache ich es ihr nicht nach und Räume den Großteil meiner Klamotten in den kleinen, braunen Schrank neben meinem Bett. Als ich auf dem Boden sitzend den letzten Pullover aus dem Koffer nehme, erscheint eines der Bilder, das ich eingepackt habe.
Den Pullover lege ich auf den Stapel in der Schublade, bevor ich vorsichtig das Foto im silbernen Rahmen in die Hand nehme. Langsam streiche ich über Milans Gesicht, der leicht überraschte Gesichtsausdruck, als ich seinen Namen gerufen und dann fotografiert habe. Das entstand in unserem letzten gemeinsamen Winter, als es das erste Mal richtig geschneit hat. Obwohl die mit Schnee beladenen Bäume einen die Kälte schon fühlen lassen, strahlt das Bild eine unglaubliche Wärme aus. Milan strahlt sie aus. Auch wenn er nicht lacht, sondern sich lediglich zu mir umdreht, hat er das Funkeln in den Augen. Das Lächeln in den blauen Augen. Und das ist es, warum ich dieses erstmal so unscheinbare Bild liebe.
Ich habe Milan für eine Sache ganz besonders bewundert. Die Augen. Als wären sie der Eingang zu seinem unglaublich großen Herzen. Man konnte ihm die Gutherzigkeit in jeder Situation ansehen. Und das ist es, warum ich ihn so liebe. Und so vermisse.
Ein lauter Schrei und anschließendes Lachen von draußen lässt mich hochschrecken und nach einem Blick auf meine schwarze Armbanduhr mache ich mich auf den Weg zu meinem ersten Kurs an der Universität.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt