„Hallo." Mit diesem einfachen Wort begrüße ich meinen Vater, als ich ihn das erste Mal seit dem Unibeginn besuche.
Sein Gesichtsausdruck ist sichtlich überrascht, als ich Freitagabend zur Tür herein komme und er gerade aus der Küche läuft.
„Mit dir hier habe ich gar nicht gerechnet, Alva."
Ich auch nicht, antworte ich in Gedanken und löse die Schleife meiner Schuhe, bevor ich sie achtsam neben die meines Vaters auf die Matte neben der Haustür stelle.
„Schön, dass du da bist. Ich wollte gerade anfangen zu kochen", erklärt er mir sein Vorhaben und ich folge ihm erstmal schweigend in die geräumige Küche.
„Wie läuft es?", will er wissen, holt einen Topf aus der Schublade unter dem Herd und stellt ihn unsanft auf die Platte.
Müde setze ich mich auf einen der zwei Barhocker, die an der kleinen Theke neben der Kücheninsel stehen und beziehe seine Frage auf die Universität.
„Gut soweit. Sind nette Leute dort. Habe auch Freunde gefunden."
Meine kurzen Sätze wirken auswendiggelernt, was daran liegen könnte, dass es die typische Antwort auf solche Fragen ist.
Wie immer bei unseren Gesprächen gehe ich nicht ins Detail, was ihn allerdings nicht zu stören scheint, ihn inzwischen einfach nicht mehr interessiert oder er weiß, dass ich nicht über weitere Details sprechen will.
Wahrscheinlich letzteres, denn das habe ich ihn in der Vergangenheit oft genug spüren lassen.
„Das freut mich sehr." Sein Lächeln, das er bei dieser Aussage auf den Lippen hat, ist nicht ganz überzeugend und tatsächlich wirkt er schon lange nicht mehr so positiv, wie noch vor einigen Monaten.
Seine dunkelbraunen Haare haben für seine 45 Jahre bloß wenig graue Strähnen und auch sein Gesicht sieht relativ jung aus.
Dennoch sind seine Wangen etwas eingefallen und die grünen Augen erinnern kaum mehr an die strahlende Sommerwiese.
Für einen Moment denke ich darüber nach, wie mich die Leute wahrnehmen und ob man mir die schmerzhafte Vergangenheit genauso ansieht wie meinem Vater.
Irgendwie traurig, wenn man genauer darüber nachdenkt.
„Hast du eine Mitbewohnerin?"
Ich brauche kurz, um wieder aufmerksam zu werden und antworte dann:„Ja, sehr lieb und hilfsbereit." Eine weitere Antwort, die in so ziemlich jedem Gespräch wiederzufinden ist und mir klar macht, wie unglaublich nichtssagend diese Unterhaltung ist.
Wie immer.
„Woher weißt du, dass Noel Drogen nimmt?" Als diese Frage über meine Lippen kommt, wird mir dann doch bewusst, weshalb ich hier bin.
Sein Blick hebt sich von den Spaghetti und er hält einen Moment inne, bevor er sie weiter mit dem Kochlöffel im Salzwasser bearbeitet.
„Ich hätte niemals gedacht, dass Noel ..." „Antworte mir bitte", unterbreche ich ihn ruhig und kann kaum glauben, was er mir antwortet.
„Das kann ich dir nicht sagen."
„Wie, du kannst es mir nicht sagen? Falls du es noch nicht bemerkt hast sprechen Noel und ich seit Tagen nicht mehr miteinander, weil er denkt ..." Diesmal bin ich diejenige, die unterbrochen wird. Allerdings nicht von meinem Vater, der überrascht aufsieht, sondern von der Haustür, die gerade wieder ins Schloss fällt.
„Hallo, Dad." Noels Gesicht sieht nicht so aus, als wäre er freiwillig hier, doch als er mich beim Betreten der offenen Küche entdeckt, verfinstert sein Ausdruck sich noch mehr.
„Und Tschüss, Dad." „Noel!", sage ich verzweifelt, als er sich zum Gehen wieder umdreht und springe vom Stuhl auf.
„Lass mich in Ruhe!", ruft er über die Schulter, ohne mich anzusehen und schnappt sich seine Tasche neben dem Eingang.
„Papa!", schreie ich und will ihn auffordern, endlich was zu tun und nicht bloß rumzustehen, doch er schweigt mit gequältem Gesichtsausdruck, was mich noch wütender macht.
„Sag' doch endlich mal was dazu!" Mein Blick wechselt immer von meinem nichtsmachenden Vater zu meinem Bruder, der sich die Lederjacke wieder überzieht.
„Ich habe die Information über deinen Drogenkonsum nicht von deiner Schwester!", ruft er dann endlich aus der Küche und stellt sich mit großen Schritten neben mich.
Tatsächlich hält Noel inne und sieht uns misstrauisch entgegen.
Ein Stein fällt mir vom Herzen, dass es endlich bewiesen ist, doch ich sollte mich niemals zu früh freuen.
„Von wem dann?" Hoffnungsvoll sehe ich meinen Vater von der Seite an, der sich nervös auf die Unterlippe beißt. Er sieht zu mir und entschuldigt sich stumm mit einem Blick, bevor er spricht:„Das kann ich nicht sagen."
Mit geöffnetem Mund sehe ich zuerst ihn an und anschließend meinen Bruder, der missbilligend seufzt, die Tür öffnet und endgültig verschwindet.
Und als ich das Schloss sich wieder schließen höre, fühlt es sich so an, als würde er mich für sehr lange Zeit verlassen.
„Du kannst es nicht sagen?" Ich muss beinahe darüber lachen, eile zu meinen Schuhen, schlüpfe hinein und schnappe meine Handtasche.
„Alva, bitte!"„Nichts, bitte!" Und damit lasse ich meinen Vater wie einen ausgesetzten Welpen im Regen stehen. Doch als ich raus komme, ist Noel weit und breit nicht mehr zu sehen.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...