47 - Rückkehr

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Es ist witzig. Witzig, dass man so lange braucht, um sich mühsam etwas aufzubauen, es aber bloß einen kurzen Moment braucht, um all das wieder zusammenstürzen zu lassen. Man investiert so viel Zeit und Energie, um wirklich etwas zu ändern. Braucht so lange, um das Neue richtig anzunehmen und es ist so hart, die Vorsätze wirklich durchzuziehen.
Mein Kopf schmerzt, meine Hand zuckt und ich wippe nervös mit dem Bein hin und her. Der leere Blick starr auf den Boden gerichtet. Ich grinse, fühle mich wie ein Psychopath. Hätte es mir bei meinem Glück nicht klar sein können, dass mir irgendwas oder irgendwer einen Strich durch die Rechnung macht, nachdem ich nach Monaten endlich verstanden habe, was zu tun, wichtig und richtig ist? Worum es geht? Ich grinse erneut.
Aber wie hätte ich damit rechnen sollen, dass mein vor über einem Jahr verschwundener, für tot erklärter Freund plötzlich vor meiner Tür steht? Absurd. Einfach absurd.
Es bildet sich erneut eine Gänsehaut auf meinem Körper und ich verschränke die Arme, um der Kälte entgegen zu wirken, auch wenn die Heizung auf Hochtouren arbeitet und ich einen Pullover trage.
Als würde mich der Blickkontakt umbringen, nehme ich meine letzte Kraft zusammen und hebe ganz langsam den Kopf, bis mein Blick seinen trifft. Mein Magen zieht sich zusammen, der Klos in meinem Hals wird größer und es fällt mir schwer, regelmäßig zu atmen. Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen und er mit den Händen wild gestikuliert. Sehe, wie seine mit Tränen gefüllten Augen den Blick nicht von meinen abwenden und wie verkrampft er auf diesem Stuhl vor meinem Bett sitzt. Milan sitzt auf meinem Stuhl. In meinem Zimmer. Milan.
Ich höre seine Worte und doch prallt alles an mir ab. Ich höre zu, wie er von der schlimmsten Zeit seines Lebens erzählt. Wie er im Regenwald mit seiner Truppe von einer unbekannten Gruppe Menschen überfallen wurde, die dort lebten. Wie er festgehalten und behandelt wurde. Dass ihm all seine Sachen abgenommen und er und die anderen für sie arbeiten mussten. Ich höre mir all die schrecklichen und abartigen Sachen an, die dort passiert sind. Wie einer von ihnen sogar gestorben und er beinahe verdurstet sei. Wie er, zusammen mit zwei anderen Jungs aus seiner Truppe, wochen- und monatelang Pläne geschmiedet und Vorbereitungen für ihre Flucht getroffen haben, bis sie es endlich geschafft haben. Zumindest er und ein weiterer aus der dreier Konstellation. Wie sie geflüchtet sind und wie sie es geschafft haben, zurück in die Zivilisation zu gelangen und ihr Team zu kontaktieren. Ich höre mir an, wie er sofort zurück nach Deutschland gereist ist, nachdem er dort alles geklärt hat und zu seinen Eltern gefahren ist. Wie seine Mutter zusammengebrochen ist und ihm erklären musste, dass sein Vater gar nicht mehr da ist, weil Milans anscheinender Tod die Ehe zu sehr belastet hat. Wie er beim Arzt war, aber nichts weiter geblieben ist, als unzählige Narben an seinem Körper. Wie er mich nicht anrufen, sondern direkt hier herkommen wollte.
All das höre ich und gleichzeitig höre ich auch nichts. All das zerreißt mir mein Herz so sehr, dass ich fast ersticke und lässt mich gleichzeitig so kalt, weil ich im Moment doch nichts fühle.
„Alva." Seine Stimme zittert und seine Hand auch, als er nach meiner greifen will. Als ich ausweiche und zurück rutsche, schluckt er schwer.
„Weißt du, wie oft ich dort daran gedacht habe, mir das Leben zu nehmen? Weißt du, wie unfassbar oft? Und weißt du auch, wessen Lächeln immer vor meinem inneren Auge aufgetaucht ist und mich jedes Mal davon abgehalten hat?" Die Tränen kann ich schon lange nicht mehr aufhalten und ich streiche mir zitternd über das Gesicht, nicht in der Lage, etwas zu sagen.
„Genau das hier ist das, was mich immer hat an die Zukunft glauben lassen. Der Gedanke daran, dass ich vielleicht schon am nächsten Tag dort verschwinden kann und hier bei dir sitze und dich ansehen kann, hat mich jeden Morgen aufstehen lassen." Er sieht so unfassbar zerbrechlich aus. So unfassbar fertig und am Ende. Die dürren Arme, das eingefallene Gesicht, die blasse Haut und dazu die Art, wie er spricht. So erschöpft, so müde, so kraftlos.
So leer.
„Alva, bitte." Er sieht mich so flehend an und ich kann an seinen Augen ablesen, wie kurz davor er ist, einfach in sich zusammenzufallen. Meine Tränen verschleiern endgültig die Sicht und ich öffne den Mund, um nach Luft zu ringen. Wie in Zeitlupe strecke ich meine Hand auch nach seiner aus und in dem Moment, als ich ihn das erste Mal berühre, nach über einem Jahr, ist es endgültig um mich geschehen. In nicht mal einer Sekunde stehe ich vor ihm und schließe ihn fest in meine Arme. So fest ich kann, so eng ich kann – und es bricht alles aus mir raus.
All die Tränen, die ich in einem Jahr wegen ihm vergossen habe, scheinen nun in doppelter Menge zu fließen und ich weiß nicht, ob ich jemals so laut und voller ... Schmerz? Erleichterung? ... geweint habe. Es bricht alles raus, was ich jemals wegen ihm gefühlt und durchgemacht habe und eines der zwei Puzzleteile, die mir schmerzhaft entrissen wurden, schmiegt sich genauso schmerzhaft wieder an.
Es dauert, bis ich mich beruhigen kann. Es dauert, während wir uns gegenseitig im Arm liegen und einfach weinen. Während er mir über den Rücken streicht wie damals, habe ich kaum die Kraft, mich überhaupt auf den Beinen zu halten. All die schönen Momente mit ihm und die schlimmsten ohne ihn der letzten Jahre ziehen an mir vorbei und überrollen mich alle auf einmal. Das Stechen in meiner Brust ist schlimmer als jemals zuvor und ich bekomme kaum mehr Luft.
Auch, als mir irgendwann nur noch still die Tränen die Wangen hinab laufen, gehen die Schmerzen und das beengende Gefühl in mir drin nicht weg.
„Ich habe mit Noah, Ella und Juna telefoniert." Er macht eine kurze Pause, um tief einzuatmen, doch ich weiß, was er sagen will. „Levi ist tot."
Es ist kaum ein Flüstern, kaum ein Wispern. Das Band zwischen uns ist nicht gerissen und als er sich schmerzhaft zusammenzieht, spüre ich augenblicklich selbst den Schmerz des Todes des besten Freundes, als wäre es mein eigener.
„Ich weiß", wispere ich. „Er hat dich unfassbar geliebt und vermisst." Es bricht mir das Herz, dass Levi nicht mehr da ist. Dass er sterben musste in dem Glauben, dass Milan, sein bester Freund, verschwunden und gestorben sei und nicht mehr mitbekommen hat, dass er wieder zurück ist.
Diesmal bin ich diejenige, die ihm langsam den Rücken auf- und abfährt und hofft, dass seine Tränen wieder trocknen und der Schmerz weniger wird, aber er wird es nicht und er wird es auch lange nicht, denn Milan hat so vieles verpasst.
Während er in Afrika war und die Zeit für ihn dort stehen geblieben ist, hat sich unsere Uhr weitergedreht. Seine Eltern haben ihr Leben fortgeführt, ohne ihn. Unsere Freunde, Noah, Levi, Juna und Ella haben alle weitergemacht, ohne ihn. Und auch ich habe mein Leben weitergelebt und es hat sich so unfassbar vieles geändert, ohne ihn. Alle dachten, er würde niemals zurückkommen. Er sei tot, verschwunden, weg. Für immer. Und wenn alle gerade so dabei sind, sich daran zu gewöhnen, damit klarzukommen und es, ihn, ein Stück weit abzuschließen, weiter zu machen und weiter zu leben, genau dann taucht er wieder auf. Dann, wenn sich schon so vieles geändert hat. Die Umstände, die Gefühle und vor allem auch die Menschen.
„Ich liebe dich, Alva." Eine unfassbar angenehme Wärme macht sich in mir breit und ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel Glück verspürt habe.
„Ich liebe dich auch", erwidere ich in nicht mal einer Sekunde und es stimmt. Ich liebe ihn so sehr. Habe ich damals, habe ich jetzt, habe ich immer. Und während ich es ihm sage, während ich es erwidere und auch spüre, denke ich nicht eine Sekunde an Kilian. Ich zögere nicht mal einen Wimpernschlag es zu erwidern, denn in diesem Moment gibt es nur Milan und mich.
Und während ich meine Augen schließe, sich meine Muskeln ganz langsam entspannen und ich den Duft einsauge, an dem ich ihn jederzeit überall erkannt hätte, merke ich, wie er sich verkrampft. Seine Atmung ist unruhig, er ist nervös. Ich spüre es, als würde es mir selbst so gehen.
„Ich hab Angst, Alva." Langsam löse ich mich ein Stück von ihm und nehme sein Gesicht in meine Hände. Verwirrt sehe ich ihn an und eine unerwartete Angst kommt in mir hoch. Er öffnet mehrmals den Mund, doch es fällt ihm zu schwer, etwas zu sagen. „Ich glaube etwas stimmt nicht mehr so ganz mit mir." Er tippt sich an seinen Kopf. „Hier oben."
Tränen steigen ihm in die Augen.
„All die Erfahrungen, die Eindrücke und Erlebnisse lassen mich nicht los. Ich dachte, sobald ich den Ort hinter mir lasse, lasse ich auch die Erfahrungen dort, aber ich habe alles in meinem Kopf mitgenommen. Die Erinnerungen lassen mich nicht los. Sie verfolgen mich überall hin. Egal, ob ich die Augen schließe oder öffne, ob ich sitze oder stehe, ob ich schlafe oder wach bin, ob ich beschäftigt oder gelangweilt, laut oder ruhig bin. Ich muss immer daran denken. Es ist immer präsent. Ich habe den dringenden Rat bekommen, zum Psychologen zu gehen und es macht mir Angst. Die Gedanken machen mir Angst." Eine Träne löst sich und sein Atem zittert. „Es macht mich verrückt."
Seine Stimme bricht, er senkt den Kopf und ich streiche ihm kopfschüttelnd mit dem Daumen die Träne weg.
„Nein, nein. Hör mir zu." Ich drücke seinen Kopf wieder sanft nach oben und sein herzzerreißender Blick trifft meinen. „Das wird wieder besser. All das wird vorübergehen und ich helfe dir dabei. Ich werde dir bei allem helfen und ich werde immer bei dir sein. Ich werde immer an deiner Seite sein und dich unterstützen, wo ich kann. Niemals mehr verlasse ich dich oder du mich. Nichts wird uns mehr auseinanderbringen oder uns trennen. Diesmal bleiben wir zusammen.
Du und ich." Und ich meine es auch so. Doch in dem Moment, als ich das ausspreche, verstehe ich, warum ich neben der unfassbaren Erleichterung auch dieses komische, unangenehme Gefühl in mir habe, denn ich weiß, dass sich jetzt erneut alles verändert.
Es war mein größter Wunsch, dass er wieder bei mir ist, weil ich dachte, dass ich erst dann wieder ein schönes Leben haben kann, doch auch das Leben, dass ich mir ohne ihn aufgebaut habe, war auf dem besten Weg wunderschön zu werden.
Ich habe zwei Leben, die ich auf ihre eigene Art und Weise liebe und ich würde Milan am liebsten in das Leben einfach hinzufügen, dass ich mir ein Jahr lang aufgebaut habe, doch ich weiß, dass das nicht geht. Milan hat mein Leben komplett über den Haufen geworfen, als er verschwand und ich dachte, es kommt wieder in Ordnung, wenn er wieder hier ist, aber mit seiner Rückkehr hat er es noch mehr durcheinandergebracht.
Ich weiß, dass ich einiges aufgeben muss, dadurch, dass er wieder hier ist. Ich weiß, dass sich vieles erneut verändert und auch teilweise negativ, aber ich würde ihn trotzdem für nichts auf der Welt wieder hergeben.
Ich will mein Leben mit Milan verbringen und wenn das bedeutet, dass ich das hier, dass ich Kilian aufgeben muss, dann wird das so sein.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt