Es dauert einige Momente, bis ich mich gesammelt habe.
Bis ich mich versichert habe, dass ich für diesen Tag in meine alte Heimat zurückgekehrt bin.
Bis ich realisiert habe, dass ich auf dem feuchten Gras des Friedhofs stehe, auf dem auch meine Mutter und ein leerer Sarg für Milan beerdigt wurden.
Bis ich den Sarg vor mir noch einmal gemustert habe und bis ich durch die traurige Runde der Menschen gesehen habe, die Levi geliebt haben, und mir jedes einzelne Gesicht eingeprägt habe.
Das Gesicht seiner Mutter, die bitterlich weint und sich an die Schulter ihres Mannes anlehnt, der starr auf den Boden sieht.
Das Gesicht von Juna, die mir mit Tränen in den Augen entgegensieht und die verzweifelten Gesichter von Ella und Noah, die ebenfalls zum engsten Freundeskreis von Milan, Levi und mir gehört haben.
Die ich ebenfalls zurückgewiesen und zurückgelassen habe.
Ich räuspere mich einmal und versuche tief durchzuatmen, bevor ich meine Rede beginne.
„Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als wäre es gestern gewesen, als Juna mich in Berlin angerufen hat.
Die Nachricht, dass Levi einen Tumor habe, hat mich wie ein Schlag ins Gesicht getroffen.
Ich war gerade dabei, mir einen neuen Lebensabschnitt aufzubauen, war mit mir selbst beschäftigt und wollte das schlechte mal loslassen.
Juna meinte, Levi habe darum gebeten, dass ich vorbeikommen solle. Dass ich einfach nur einmal noch nach ihm sehen solle.
Er hat darum gebeten, obwohl ich ihn zuvor allein gelassen habe. Obwohl ich ihn und alle anderen abgewiesen habe und umgezogen bin. Obwohl zwischen uns allen so ein kompliziertes Verhältnis herrscht, hat er lediglich gesagt, er wünsche sich, dass ich vorbeikommen würde. Eine einfache, kleine Geste."
Ich atme tief aus und meine Stimme zittert, während mir Tränen in die Augen schießen. „Aber ich bin nicht gekommen. Ich habe ihm diesen einen Wunsch nicht erfüllt.
Und warum? Weil ich beschäftigt war. Weil ich mit mir selbst und meinen Problemen beschäftigt war. Ich habe ihn im Stich gelassen.
Er ist mit tausenden Gedanken gestorben und einer davon war, dass ich es nicht mal auf die Reihe bekommen habe, ihn zu besuchen."
Meine Stimme bricht und ich wische mir mit meinem Taschentuch über die Wangen. „Ich weiß nicht, wie ich in Zukunft mit der Schuld und dem schlechten Gewissen leben und umgehen werde.
Und ich weiß, dass wenn Levi mich nun hören würde, er den Kopf schütteln würde. Er würde sagen, dass er enttäuscht sei und sich gewünscht hätte, dass ich gekommen wäre.
Aber er würde ebenso betonen, dass ich mich nicht deswegen fertig machen solle, denn so war Levi nicht.
Er war nicht nachtragend oder voller Hass. Er war nicht einer der Sorte, die einem anderen etwas schlechtes wünschen, wenn jemand etwas schlechtes getan hat.
Er hatte eine ganze besondere Sicht auf das Leben. Auf alles.
Das ist etwas, was ich immer an ihm bewundert habe und das ist auch etwas, was Milan und Levi immer verbunden hat. Die zwei besten Freunde.
Die zwei lustigen Kumpels, die so viele verschiedene Facetten hatten.
Mal die witzigen Vögel, mal die Romantiker, mal dein Fels in der Brandung, der dir jederzeit zur Seite stand.
Wie oft trifft man solche Menschen im Leben, die einfach durch und durch gut sind? Selten.
Die beiden waren einfach ein tolles Team und unzertrennlich. Ich kann mich an so viele Situationen erinnern, in denen wir uns alle gemeinsam bei irgendwelchen Spielen gebattelt und Levi und Milan sich insgeheim gegen uns andere verbündet haben.
Als sie zum Schluss, nachdem sie den Sieg ergattert haben, sich gefreut haben, warfen Juna und ich uns jedes Mal einen belustigten Blick zu und haben den Kopf geschüttelt."
Ein kleines Lächeln bildet sich auf meinem bleichen Gesicht und ich sehe auf den dunklen Sarg hinab.
„Umso surrealer ist es nun, hier zu stehen. Vor dem Sarg von Levi zu stehen, während bloß wenige Meter das Grab seines Seelenverwandten Milan liegt.
Ein Moment, in dem man sich fragt, warum?"
Ich hebe meinen verschwommenen Blick wieder und sehe geradewegs in die roten Augen von Levis Mutter, die mir erschöpft und doch aufmerksam entgegen sehen. „Warum haben diese zwei jungen Menschen es verdient zu sterben?
Warum haben sie nicht die Möglichkeit bekommen, ihre Träume zu verwirklichen? Wieso mussten diese zwei besten Freunde, die so viel gutes getan haben und gutes vorhatten, von uns gehen?"
Ratlos zucke ich mit den Schultern und wende den Blick ab, da ich es nicht mehr ertragen kann.
„Man weiß es nicht.
Vielleicht, weil die schönsten Blumen immer zuerst gepflückt werden.
Vielleicht, weil der Tod das Ende und gleichzeitig der Beginn für etwas ist. Vielleicht gibt es einen tiefgründigen, großen und wichtigen Grund. Aber vielleicht ist das Leben auch einfach nur unfair und zufällig", sage ich leise und verschränke meine Finger.
Auch Juna hat inzwischen zu einem Taschentuch gegriffen und vergräbt ihr Gesicht weinend in dem Stoff von Noahs Jacke, der mit geschlossenen Augen seine Arme um sie legt.
„Aber ich weiß, dass Levi das nicht behauptet hätte. Levi hätte sich niemals mit einer schlichten Antwort zufriedengegeben, der Tod sei das Ende oder es passiert einfach aus Zufall.
Ich kann mich noch gut an einen bestimmten Tag erinnern.
Ein Tag, der mir bis heute viel bedeutet. An den ich gerne zurück denke, wenn ich an Levi, Milan oder unsere gemeinsam Zeit als Freundeskreis denken will.
Denn es war der letzte richtige Ausflug von uns allen zusammen, bevor das Drama seinen Lauf genommen hat.
Es war der Sommer vor über einem Jahr, ein paar Tage, bevor Milan nach Afrika gereist ist.
Juna, Noah, Levi, Milan und ich haben alle nochmal gemeinsam unsere Sachen gepackt und sind an eine kleine Hütte am See gefahren.
Wir hatten so viel Spaß, so viele tolle Momente gemeinsam.
Dieser Tag hat mir bewusst gemacht, was für eine tolle Zeit ich mit diesen Menschen erleben darf. Ich habe mich immer wieder dabei erwischt, wie ich kurz innegehalten habe, als wir beim Sonnenuntergang gemeinsam auf dem Steg gesessen sind, mich im Kreis umgesehen und einfach nur gelächelt habe.
Die glücklichen Gesichter angesehen und das freudige Lachen gehört habe.
Und ich habe gedacht:„das ist die beste Zeit meines Lebens.".
Ich habe gedacht, das ist der Beginn der noch besseren Zeit meines Lebens.
Wer hätte denn in so einer Situation, in der wir einfach glücklich, schwerelos und sorgenfrei waren, geahnt, dass das das letzte Mal ist, dass Juna, Noah und Levi Milan sehen?
Dass das auch für mich das letzte richtige Mal ist, eine tolle Zeit mit meinem Freund zu verbringen und ich ihn danach nur noch zum Flughafen begleiten würde?
Wer hätte denn da ahnen können, dass Milan sterben würde? Dass unser ganzer Freundeskreis mit einem Mal zerbricht und nun, ein Jahr später, auch Levi von uns gehen würde?"
Ich schüttle den Kopf und zucke fassungslos mit den Schultern.
„Niemand hätte das können. Niemand. Aber an diesem Tag war nicht nur das letzte Mal, dass wir alle zusammen Spaß hatten, sondern habe ich auch eine Weile mit Levi allein gesprochen.
Es war am letzten Tag des Ausflugs.
Alle waren baden, lediglich Levi und ich haben es uns auf dem Steg bequem gemacht und über alles mögliche gesprochen, bis wir irgendwann auf das Thema Tod gekommen sind.
Seit dem Tod meiner Mutter hatte und habe ich ein großen Problem damit, mache mir häufig Gedanken darüber und habe irgendwie auch Angst vor meinem eigenen. Ich habe ganz offen mit ihm darüber gesprochen und er hat die ganze Zeit bloß in den orange rot gefärbten Himmel gesehen, bis ich fertig war.
Dann hat er zu mir rüber gesehen und ich kann mich noch ganz genau daran erinnern.
Seine Haare hingen ihm noch nass in die Stirn. Sein Kopf war ganz leicht schräg gelegt, seine Augenbrauen minimal nach oben gezogen, sodass sich leichte Falten auf seiner Stirn abzeichneten und die braunen Augen sahen mich so unbeschwert an, dass ich auf einmal gar nicht mehr das Gefühl hatte, eben noch über ein so ernstes Thema gesprochen zu haben, das mich so belastet.
Ich denke, das war eine große Stärke, die Levi immer hatte. Selbst in den ernstesten Situationen, selbst wenn man ihm seine tiefsten Unsicherheiten und Ängste geschildert hat, hat er im Gespräch nie mein schlechtes Gefühl, das ich hatte, unterstützt.
Er hat immer alles so formuliert und rübergebracht, dass es einem gar nicht mehr so schlimm und daramtisch vorkam, obwohl seine Worte eigentlich genau sowas ausgedrückt haben.
Es ist so schwer zu beschreiben und ich will es auch gar nicht versuchen näher zu beschreiben.
Sowas muss man einfach in dem Moment spüren und deshalb habe ich immer gerne mit ihm gesprochen.
Er hatte sich ein paar Momente Zeit genommen und dann gefragt, was mit einem Samen passiere, den man vergräbt. Ich war zuerst verwirrt, aber er hat es ganz logisch erklärt:„Wenn man einen Samen auf die Erde fallen lässt, dauert es zwar eine Weile, aber es wächst ein großer Baum daraus mit grünen Blättern und vielleicht auch Blüten und Früchten.
Was muss der Samen aber dafür tun? Er muss sterben.
Er muss sein Leben geben, aber es entsteht neues Leben.
Es gibt viele Geschichten dazu.
Ein Löwe ist immer bereit zu töten, aber auch zu sterben. Wir Menschen sind zwar auch jederzeit dazu bereit zu töten, aber wir hängen am Leben.
Wir wollen die Macht, wir wollen alles an uns reißen. Wollen alles schaffen in diesem Leben.
Aber wer von uns ist bereit zu sterben? Für andere oder für Dinge, die wichtig sind?
Wir tragen diesen Samen die ganze Zeit über in unserer Hand. Halten ihn ganz fest und wollen ihn nicht loslassen .
Aber manchmal muss man das hier ..."
Er sah auf seine Faust und öffnete sie langsam.
„... einfach fallen lassen, damit daraus etwas wachsen kann.
Damit etwas neues daraus entstehen kann.
Damit aus Tod, Leben werden kann."
Sein intensiver Blick fand wieder meinen und er fragte:„Also, bist du bereit zu sterben?" "
Ich lasse meine Worte für einige Momente im Raum stehen und auch Juna, die immer noch an Noah lehnt, sieht inzwischen wieder aufmerksam zu mir.
Keiner dreht sich mehr weg, weint laut oder ist abgelenkt.
Jeder sieht zu mir und lauscht mir. Ich atme tief ein und hebe mein Kinn etwas.
„Damals kamen mir seine Worte schön vor, aber ich habe das Gefühl, sie erst heute richtig zu verstehen.
Erst heute gibt mir jedes einzelne Wort seiner Sätze so unfassbar viel und ich hoffe, er hat Recht.
Ich hoffe, seine Worte waren nicht bloß schöne Umschreibungen für den nutzlosen Tod, der ihn uns geholt hat.
Ich hoffe, dass seine Worte genauso viele tiefe Wurzeln haben, wie der Baum, der aus Levis Samen gewachsen ist.
Ich bin bei Weitem kein Optimist, der an den Himmel, das Paradies oder sonst etwas geglaubt hat.
Ich bin niemand, der immer das Gute sieht oder der im Tod mehr gesehen hat, als das Ende.
Aber ich bin mir sicher, dass aus Levis Samen ein wunderschöner Baum gewachsen ist."
Eine Träne läuft mir über die Wange und ich trete hinter dem Sarg hervor, um zur Menge zrückzukehren. Als ich dort beinahe angekommen bin, stoppe ich noch einmal, drehe mich zum Sarg um und flüsterte leise:„Ich habe keine Angst mehr.
Ich bin bereit zu sterben."
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...