Nicht mal 24 Stunden nach unserem Gespräch habe ich meine wichtigsten Sachen gepackt und bin zu meinem Vater gefahren. Da wir in den letzten paar Monaten nicht mehr miteinander zu tun hatten, als alle paar Wochen ein paar nichtsaussagende Nachrichten auszutauschen, ist er umso überraschter, als ich plötzlich auf der Matte stehe.
Er weiß, dass etwas nicht stimmt, doch er fragt zum Glück nicht weiter nach. Statt einer richtigen Begrüßung bekam ich ein unsicheres Oh, du hast ja gar nicht Bescheid gegeben.
Ich weiß nicht, was er in letzter Zeit getrieben hat und er weiß genauso wenig, was ich gemacht habe. Doch wieder fragt keiner nach.
Ohne selbst zu wissen, was genau ich hier mache und für wie lange, lasse ich mich auf dem Bett in dem Zimmer nieder, das genauso fremd ist, wie alle Menschen in meinem Umfeld momentan. Ich liege auf der kühlen Matratze, starre an die weiße Decke.
Und so vergehen wieder Stunden, Wochen. Wochen, in denen ich nichts anderes zu machen scheine, als auf meinem Bett zu liegen, im Bett zu essen, zu schlafen und ab und zu ein anderes Mal zu sagen, wenn mein Vater vorsichtig nachfragt, ob ich mit ihm essen wolle.
Die Uni besuche ich nicht mehr, das Schreiben vernachlässige ich sowieso und auch alles andere hat seinen Reiz verloren. Es ist komisch mit anzusehen, wie ich mir selbst alles wieder kaputt mache, aber nichts dagegen tun kann. Oder tun will?
Luan hat mir eine einzige Nachricht geschrieben, am ersten Tag, nachdem ich abgehauen bin. Er wollte lediglich wissen, ob es mir soweit gut gehe und hat betont, ich könne ihm jederzeit schreiben. Er weiß, dass ich keine 20 Anrufe und 40 Nachrichten brauchen kann. Auch Elijah hat sich mehrmals erkundigt, ob ich Hilfe brauche. Von Kilian kam nichts.
Noel lässt sich alle paar Tage blicken und versucht irgendwas aus mir rauszubekommen, aber ich will nicht über Geschehenes sprechen.
„Ich habe mit Kilian geredet." Verwirrt drehe ich mich um, als mein Bruder mit verschränkten Armen im Türrahmen steht.
„Was hast du?" „Das kann so nicht weiter gehen."
Er lässt seine Arme kraftlos fallen und sieht mich flehend an, während ich mich auf mein unordentliches Bett niederlasse.
„Er hat nicht viel gesagt. Bloß, dass ihr getrennt seid und du dich bei keinem von ihnen meldest."
Ich nicke, nicht in der Verfassung, eine Diskussion zu führen oder ihn anzusehen. „Alva, du kannst nicht wieder so weiter machen. Ich habe das größte Verständnis überhaupt für dich, vor allem, da du in meiner schlimmsten Zeit genauso für mich da warst und mir rausgeholfen hast, aber es geht nicht so weiter.
Ich kann dir jetzt irgendwelche poetischen Gedichte und Sprüche über das Leben vortragen, aber ich glaube du bist über den Punkt hinaus, bei dem das noch hilft."
Ich höre ihn seufzen und wie er zwei oder drei Schritte geht, bevor er wieder stehen bleibt. Ich kann mir so gut vorstellen, was für einen Ausdruck er gerade auf dem Gesicht hat, doch ich starre die kahle Wand an.
„Du verletzt dich selbst und alle anderen in deinem Umfeld. Vater hat so oft Tränen in den Augen, wenn ich nach dir frage oder wir ohne dich unten essen, zumal er nicht mal weiß, was mit seiner kleinen Tochter los ist. Die Jungs sitzen jeden Tag zu dritt in der Cafeteria, schweigen sich oft an und wenn sie lachen und sprechen, merkt man, dass ihnen jemand fehlt. Luan sitzt verloren in der Vorlesung, in der er normalerweise immer mit dir war und Elijah kümmert sich ratlos allein um seine Präsentationen, bei denen du ihm sonst geholfen hast in der Bibliothek.
Und Kilian? So oft wie der in Gedanken vertieft ist und schlechte Laune hat, kann ich nicht mal an 10 Händen abzählen. Von den Augenringen nach dem Feiern ständig und den roten Augen vom Gras rauchen will ich gar nicht erst anfangen."
Ich schließe die Augen und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie mir diese Worte wehtun.
„Woher weißt du all das?" Meine Stimme ist leise, aber ich frage mich wirklich, wie Noel auf all diese Dinge kommt.
„Ich bekomme mehr von dir und den drei mit, als du denkst, aber ich frage mich trotzdem, was du mit dem Jungen gemacht hast, so fertig wie Kilian wirkt."
Seine Stimme kommt immer näher und ich sehe mit wässrigen Augen hoch, als er vor mir zum Stehen kommt.
„Wo ist die lächelnde, positive Alva hin?"
Er spricht so leise und enttäuscht, dass ich eine Gänsehaut bekomme.
„Ich weiß es nicht", wispere ich. Meine Worte sind dünn und mindestens genauso voller Enttäuschung, wie seine. Mein Hals schnürt sich endgültig zu und ich kämpfe nicht mehr gegen die Tränen an, die meine Wangen hinab laufen.
„Ich sehne mich nach Liebe, die mir von Milan und Mama fehlt, aber stoße alle von mir, die bereit sind mich jetzt zu lieben", schluchze ich und klammere mich um Noel, als er mich in die Arme schließt, als wäre er meine letzte Hoffnung, meine einzige Überlebenschance.
Es dauert eine Weile, in der ich einfach weine. Ich weine und weine und keiner sagt oder macht etwas dagegen. Er hält mich einfach nur im Arm und ist da, während ich all die Tränen rauslassen kann. All den Schmerz, all die Schuldgefühle und negativen Gedanken. Es tut unfassbar weh und jede Träne scheint auf meiner Haut zu brennen, doch gleichzeitig scheine ich mich auch mit jeder vergossenen Träne ein Stück leichter zu fühlen, denn tatsächlich habe ich kein einziges Mal so sehr einfach nur geweint, seit Monaten.
Und irgendwann hört man mich nicht mehr. Das schmerzvolle Schluchzen hat aufgehört. Mein Blick ist starr auf die Tür gerichtet und die Tränen laufen in immer längeren Abständen mein Gesicht hinab, bis auch die letzte getrocknet ist.
Im ersten Moment scheine ich es gar nicht richtig wahrzunehmen, als Noel auf die Knie geht, um mit mir auf einer Höhe zu sein und mein Gesicht zwischen seine Hände nimmt.
„Meinst du nicht es zerreißt mir jeden Tag, jede Stunde und jede Sekunde das Herz, dass Mama nicht mehr da ist? Meinst du nicht ich habe auch Momente, in denen ich den Schmerz nicht mehr ertragen kann? Meinst du nicht, ich hätte mir in dem Moment, als wir von ihrem Tod erfahren haben, nicht auch selbst am liebsten die Adern aufgeschlitzt?"
Seine scharfen Worte, die feuchten Augen und der tiefe Blick lassen meine Brust sich schmerzhaft zusammenziehen und ich schlucke schwer, ringe nach Luft.
„Es ist so leicht alles zu hassen. Es ist so leicht zu sagen, dass dieses Leben scheiße ist, dass alles schlecht läuft, alles keinen Sinn macht und sich in Mitleid zu baden. Es ist immer leicht, zu hassen und negativ zu sein und genau das ist der Grund, warum wir Menschen diesen Weg so oft wählen; weil wir schwach sind. Weil wir nicht die Stärke besitzen, den steilen Weg zu gehen. Dabei ist die Entscheidung zwischen hart, aber positiv und leicht, aber negativ gar kein Hexenwerk. Es ist kein schwieriges Rezept oder eine Sache von körperlicher Schwäche und Stärke. Alles was du tun musst, ist diesen Schalter hier drin umzulegen."
Er tippt mit seinem Finger an meine Stirn. „Es ist egal, ob du weinst oder lachst, Mama wird nicht mehr wiederkommen, genauso wenig wie Milan oder Levi, und daran ändert sich nichts. Sie sind weg, Alva. Für immer und ewig."
Seine Stimme bricht kurz und er streicht sich die Tränen weg.
„Verdammte Scheiße, wir bleiben für immer diese zwei Geschwister, die ihre Mutter verloren haben. Wir werden immer die sein, die nur mit ihrem Vater irgendwo auftauchen oder erklären müssen, warum jemand nicht unsere Mutter erreichen kann. Wir sind immer die Familie, die auf den gemeinsamen Fotos nicht vollständig ist oder lieber auf den Friedhof gegangen sind, als mit Freuden feiern. Du wirst immer die sein, deren Freund gestorben ist, nachdem sie schon die eigene Mutter verloren hat und bemitleidet wird, weil alles so auf einmal kam.
Verdammt, Alva, ein Teil von uns wird immer mit Mutter ins Grab gegangen sein und all dieser Scheiß ist einfach Fakt. Es sind beschissene Fakten, an denen weder du, noch ich oder sonst irgendjemand auf dieser Welt etwas ändern kann."
Seine Stimme wird immer lauter, der Schmerz in meiner Brust immer größer.
„Hör auf gegen die ganze Welt zu protestieren, indem du dich weigerst glücklich zu sein. Hör auf wie ein bockiges Kind zu versuchen, das zu bekommen, was du willst, weil das einfach nicht geht. Du kannst dein Leben lang so weiter machen. Du kannst den Rest deines langen Lebens noch in diesem beschissenen Zimmer hocken und denken dieses Leben will dir nur schlechtes und bringt dir nur Unglück und schlechte Zeiten, aber das ist nicht so. Schlussendlich bist du dafür verantwortlich, was du daraus machst. Ja, es ist verdammt nochmal richtig mies gelaufen, da wird dir keiner widersprechen. Aber wie du weitermachst, ist allein deine Entscheidung und du allein bringst dir momentan das Unglück. Du ganz allein. Egal, wie lange du noch weiter protestierst und dich in diesem Loch gefangen halten lässt.
Nichts wird sich ändern. Nichts."
Die letzten Worte sind so leise, dass ich es kaum noch höre. Erschöpft lässt er seine Hände fallen und hält sie sich vor das feuchte Gesicht, bevor er sich langsam erhebt und zur Tür geht.
Im Türrahmen bleibt er stehen, hält sich mit einer Hand daran fest und dreht sich dann langsam zu mir um. Unsere Blicke treffen sich und die letzte Träne löst sich an seinem Augenwinkel.
„Mama wäre enttäuscht von dir. Du musst da jetzt allein rauskommen."
Dann wendet er sich ab und geht.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...