Die Bäume ziehen an mir vorbei, die Sonne scheint durch meine Windschutzscheibe und ich öffne das Fenster ein Stück, um die frische Frühlingsluft reinzulassen. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, als ich dem Auto meines Vaters durch das kleine Dorf folge und ich drehe die Musik lauter.
Würde ich nicht Auto fahren, wäre jetzt der perfekte Moment die Augen für ein paar Momente zu schließen und einfach den Vögeln und der Musik zu lauschen, während die Sonnenstrahlen mein Gesicht kitzeln und der Wind durch meine Haare weht.
Als ich das Ortsschild sehe, macht sich für einen Moment ein komisches Gefühl in mir breit und ich versuche mich mehr auf die Vorfreude zu konzentrieren, während mein Vater langsam abbremst, nach rechts blinkt und auf den Parkplatz fährt. Mit verwirrtem Blick werde auch ich langsamer, halte hinter ihm am Straßenrand und steige mit zusammengezogenen Augenbrauen aus, als mein Vater schon auf mich zukommt. Ein Kribbeln macht sich in meinem Körper breit und es ziehen so viele Erinnerungen an mir vorbei, die ich hier gesammelt habe. Hier in dem Haus in dem Ort, in dem ich die schönste und schlimmste Zeit meines Lebens verbracht habe. Langsam gehe ich um das Auto zu meinem Vater auf den Gehweg, nicht in der Lage, den Blick von der hellblauen Fassade abzunehmen, die sich meine Mutter unbedingt gewünscht hat.
Ich weiß nicht, wie lange wir hier stehen und das Haus betrachten, in dem ich 19 Jahre verbracht habe. Ich mustere den immer noch gepflegten Vorgarten, den meine Mutter so geliebt und jederzeit gepflegt hat. Ich sehe den hölzernen Zaun, auf den sie so stolz war, bis Noel und ich als Kinder gespielt haben und ihn beim Fußball spielen aus Versehen an einer Stelle kaputtgetreten haben. Ich sehe an der großen Scheibe im zweiten Stock immer noch das aus Ästen gestrickte Herz, das Noel und ich ihr zum letzten Geburtstag geschenkt und von deinen Kindern für die beste Mutter - wir lieben dich eingravieren lassen haben.
Ein kleines Lächeln bildet sich auf meinen Lippen und mein Vater folgt mir zu der kleinen Vorgartentür, über der ein weißes, rundes Tor ragt, an dem sich rote Rosen entlang schlängeln.
„Sie hätte sich sicher gefreut, dass die Rosen endlich das ganze Tor bedecken. Es war ihr Lieblingsprojekt in diesem Garten", sage ich und greife nach einer Blüte, um an ihnen zu riechen. Meine Mutter hat Rosen geliebt.
„Was machen wir hier?" Ich drehe mich wieder zu meinem Vater, der mit den Händen in den Hosentaschen das Haus mustert, bis er mich ansieht. „Wir wohnen wieder hier. Eine Freundin hat sich solang um alles hier gekümmert."
„Was?" Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Ich war in dem Glauben, er hätte das Haus verkauft und eine andere Wohnung für uns gefunden. Er lacht kurz auf.
„Meinst du wirklich ich würde es über's Herz bringen das Haus zu verkaufen, dass ich gemeinsam mit eurer Mutter aufgebaut und gepflegt habe? In dem alle Erinnerungen stecken?"
Meine Mundwinkel ziehen sich leicht nach oben und ich schließe ihn fest in die Arme. „Mama würde sich freuen."
Er drückt mich noch fester und obwohl mir der Gedanke daran, dass ich wieder in den vier Wänden leben werde, die mir so viel Schmerz bereitet haben, Angst einjagt ist es dennoch ein schönes Gefühl, denn ich fühle mich ihr jetzt schon viel näher.
Ein Hupen lässt uns zusammenschrecken und Milan winkt grinsend aus dem Wagen, mit dem er zu seinen Eltern fährt, die ein paar Straßen weiter wohnen.
Auch ich hebe die Hand, winke und lächle und ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so ehrlich, so glücklich und so zufrieden gelächelt habe.Nach Milans Rückkehr hat es keine zwei Monate gedauert, bis ich meine Sachen gepackt, mein Studium abgebrochen und mit meinem Vater zurück in unsere alte Heimat gezogen bin. Zu Milans Eltern, meinem alten Haus, unseren alten Freunden und dem Ort, den ich für immer hinter mir lassen wollte - doch Milan braucht ein sicheres, stabiles und bekanntes Umfeld.
Es wird dauern, bis Milan selbst wieder richtig zu sich findet und bereit ist, sich neue Dinge in der Zukunft aufzubauen. Für's Erste ist es besser, wenn er in der Kleinstadt lebt, die er kennt. Hier hat er seine ganze Zeit, bis zu seiner Afrika Riese, verbracht. Er kennt den Ort, die Menschen. Er hat hier seine Mutter und Großeltern. Er hat das Haus, in dem er aufgewachsen ist und er hat mich und besucht mich in dem Haus, in dem mein Zimmer immer noch im zweiten Stock ist, der Ersatz Schlüssel immer noch unter dem kleinen Blumentopf liegt und mein Vater immer noch in der Küche steht und zu Abend kocht, wenn Milan wieder vorbeikommt.
Er geht wieder in die ihm bekannte Schule, während ich eine Ausbildung angefangen habe. Er hat Noah, Juna und Ella, mit denen wir wieder schöne Ausflüge gemeinsam verbringen können. Er hat die typische Pizzeria um die Ecke, dessen Chef er schon lange kennt und der immer wusste, welche Pizza er machen muss, wenn Milan durch die Tür kam und er hat fast alles hier, was er immer hatte.
Es hat geschmerzt, Berlin zu verlassen und meinen Bruder dort zu lassen, doch er war einverstanden sein Studium zu beenden und uns so oft wie möglich zu besuchen. Elijah und Luan haben mich verstanden, auch wenn es selbst für sie schwer war, mich gehen zu lassen. Es sind nicht zu wenig Tränen beim Abschied geflossen und es hat nicht zu wenig wehgetan, doch wir wussten alle drei, dass es das Beste für mich ist. Elijah schreibt mir alle paar Wochen, ob es mir gut gehe und von Luan höre ich regelmäßig etwas. Unsere Freundschaft ist wirklich etwas besonderes und er plant uns in den nächsten Ferien hier zu besuchen, bevor Milan und ich uns auch mal auf den Weg nach Berlin machen wollen.
Zwei Tage nach Milans Rückkehr bin ich zu Kilian gegangen und habe ihm alles ehrlich erklärt. Während der ganzen Zeit, in denen ich den Tränen nahe war und ihm sowohl von Milan, meinen Gefühlen zu ihm, als auch über meine Zukunftspläne erzählt habe, hat er mich nicht angesehen. Dass ich ihm zwei Tage zuvor sagen wollte, dass ich ihn liebe, endlich verstanden habe, wie sehr ich ihn brauche und meine Zukunft mit ihm verbringen wolle, habe ich ihm nicht gesagt. Ich weiß bis heute nicht, ob all das mit ihm und meiner Liebe zu ihm bloß Einbildung war, oder, ob die Verbindung mit Milan am Ende des Tages einfach nur stärker war.
Nachdem Kilian mich kommentarlos weggeschickt hat, habe ich bis jetzt nichts mehr von ihm gehört.
Wer hätte gedacht, dass sich all die Monate in Berlin mein Leben um 180 Grad wendet und ich am Schluss wieder hier lande. Wieder hier, wo beinahe alles so ist, wie vorher.
Wer hätte gedacht, dass ich mein Leben zwei Mal hinter mir lasse und woanders wieder neu anfange. Oder eben wieder beim Alten anfange.
Wer hätte gedacht, dass ich nun wieder hier, Hand in Hand mit Milan, zusammen mit Juna, Noah und Ella die Nachmittage verbringe, bevor ich wieder zu Hause, in meinem richtigen zu Hause, gemeinsam mit Meinem Vater zu Abend esse und dann noch mit Milan in dem Bett Quatsch mache, in dem wir so viele ernsthafte Gespräche und witzige Momente erlebt haben.
Auch wenn es die ersten Monate ungewohnt und seltsam war, wieder gemeinsam und doch ohne Levi, an unserem Lieblingsplatz am Bach Pizza zu essen bis es zu kalt wurde, pendelt sich langsam wieder alles ein und irgendwann wird aus den ungewohnten Dingen, die ich beinahe vergessen habe, wieder Gewohnheit und irgendwann fühlt sich alles wieder so normal und echt an, dass ich meinen Ausflug nach Berlin beinahe vergesse, würde mir Luan nicht ständig schreiben.
Und während ich Milans Hand halte, wir mit den anderen Quatsch machen, ich mich einfach bloß an seine Schulter lehne oder ihn lächelnd ansehe, wie er gemeinsam mit Noah lacht, denke ich doch immer wieder an Kilians Worte:„Du bist... du bist wie aus Glas. Zerbrechlich wie Glas.", aber nur, um mir bewusst zu werden, dass ich heute, im Hier und jetzt, an Milans Seite, stärker als je zuvor bin.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...