36 - Mut

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Mit verschränkten Armen lehne ich an der kühlen Säule, die das Vordach des Krankenhauses stützt. Große Regentropfen prasseln lautstark auf das Gebäude und der Wind, der mir entgegenpfeift, verschafft mir Gänsehaut.
Es ist komisch. Das letzte Mal saß ich im Warteraum mit Kilian, der besorgt an meiner Seite saß, während mein Bruder dort drin lag. Ich stand ich hier draußen mit Kilian, auch im Regen, der mich getröstet hat.
Dieses Mal ist es Kilian, um den ich unfassbar große Angst habe, und es ist Noel, der die Türen aufstößt und mich sanft in die Arme schließt, während ich hier draußen stehe.
Erschöpft schließe ich die Augen und lege meine Arme fest um ihn.
Im Unterschied zum letzten Mal bin ich heute ruhig. Anstatt, wie damals, aufgebracht im Regen zu stehen und mich lauthals zu beschweren, warum mir immer wieder sowas widerfahren muss und warum ich nie Ruhe haben kann, stehe ich heute leise unter dem Dach, beobachte den Regen und lasse die Tränen still runterlaufen.
Ich habe einfach keine Energie mehr dafür. Ich habe keine Kraft mehr, zu schreien oder irgendwelche Worte zu finden, um meine Situation zu beschreiben. Ich kann es nicht mehr.
„Du kannst zu ihm, Alva." Es dauert einige Momente, bis ich die leisen Worte meines Bruders realisiere. Ich löse mich langsam von ihm und sehe ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an, bis sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht bildet.
„Seine Mutter ist bei ihm und hat erlaubt, dass du auch rein darfst. Kilian hat wohl darum gebeten."
Es geht ihm gut, ist das Erste, was mir durch den Kopf schießt. Ohne ein weiteres Wort eile ich wieder in das Gebäude, lasse mir von meinem Vater die Nummer sagen und renne den langen Gang entlang.
Ärzte und Besucher ziehen an mir vorüber, doch ich beachte niemanden.
Ich weiß nicht, woher mich auf einmal die Kraft packt, doch ich fühle mich wie beflügelt, als ich auf das Zimmer zu renne.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so froh war. Wann ich das letzte Mal so erleichtert war. Ich dachte immer, dass jemandem ein Stein vom Herzen fällt, ist bloß eine Sprichwort. Doch in diesem Moment fällt so eine Last von mir, dass ich erst jetzt wieder richtig atmen kann.
Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich klopfe kurz an, bevor ich die schwere Tür aufreiße. Nervosität steigt in mir auf und als ich um die Ecke blicke, sieht mir eine dunkelhaarige Frau und Kilian entgegen. Als er mich sieht, bildet sich ein Lächeln auf seinem verkratzten Gesicht und innerhalb nicht mal einer Sekunde beginne ich zu schluchzen und halte mir die Hände vor den Mund.
„Bitte, weine nicht." Auch seine Augen werden glasig und er streckt den unverletzten rechten Arm nach mir aus. „Ich lasse euch allein." Die Worte seiner Mutter nehme ich kaum wahr, stattdessen setzte ich mich an die Bettkante und lehne mich zu ihm runter.
„Ich dachte du stirbst." Meine Stimme ist brüchig und meine Worte werden von meinem Schluchzen beinahe übertönt. Tränen laufen mir unkontrolliert die Wangen hinab und ich war noch nie so froh, seinen Duft zu riechen und seine Haut an meiner zu spüren.
„Ich wüsste nicht, wie ich weiter gemacht hätte, wenn ich dich verloren hätte", sage ich und es stimmt.
Ich hätte das niemals verkraftet. In Kombination mit all dem, was zuvor geschehen ist, hätte ich mich nicht mehr davon erholt. Das hätte mich endgültig kaputt gemacht.
„Geht's dir gut? Ich hatte so eine Angst um dich. Es tut mir so leid."
Seine zittrige Stimme verschafft mir Gänsehaut und als ich mich aufrichte und über ihn lehne, sehen mir zwei glasige Augen entgegen.
Mit unruhiger Atmung lege ich meine linke Hand an seine Wange und schlucke schwer. „Mach dir keine Sorgen um mich. Du kannst nichts dafür", flüstere ich und er wischt mir mit dem Daumen die Tränen weg.
Als seine Hand langsam an meinen Nacken wandert und sein Blick zwischen meinen Augen und meinen Lippen hin und her springt, atme ich tief ein und spätestens, als ich meine Augen schließe und er seine Lippen ganz sanft auf meine legt, macht sich wieder das schöne Gefühl in mir breit, das schon gestern plötzlich aufgetaucht ist. Es dauert nur wenige Momente, bis ich mich widerwillig ein paar Zentimeter von ihm löse.
Ich öffne den Mund, um zu sprechen, doch die Nervosität macht sich in mir breit und unser intensiver Blickkontakt aus dieser geringen Entfernung, sodass ich sogar seinen Atem an meinen Lippen spüren kann, macht es nicht besser.
„Ich muss dir etwas sagen." Meine Mundwinkel ziehen sich kurz nach oben und zwischen Kilians Augenbrauen bildet sich eine Falte, als er sie zusammenzieht. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und bin tatsächlich aufgeregt, so ehrlich zu ihm zu sein. Es fühlt sich gerade einfach gut an, ihm so nahe zu sein und ihm endlich sagen zu können, was ich fühle.
Es fühlt sich irgendwie toll an, dass ich endlich mal weiß, was ich will. Zumindest in diesem Punkt.
Ich fühle mich sicher und es kostet mich viel Mut, sowas ehrlich zu sagen. Sowas einem anderen zu sagen. Jemand anderem, als Milan.
„Der Abend gestern hat viel geändert, irgendwie. Ich weiß selbst nicht genau, wie ich das beschreiben soll, aber ..." Ich versuche, mich zu ordnen und die passenden Worte zu finden, während sich seine Gesichtszüge wieder entspannen.
„Es hat sich etwas in mir geregt, was es vorher nicht hat.
Was es lange nicht mehr hat. Ich will nicht albern klingen, aber verstehst du, was ich meine? Allein schon die Tatsache, dass ich nicht wieder abgeblockt habe und weggerannt bin, heißt doch schon was, oder?"
Ich lächle und er lacht kurz auf. Es scheint Jahre zurückzuliegen, als ich ihn einfach stehen lassen habe, dabei liegt es bloß wenige Monate zurück.
„Ich komme mir wirklich dumm vor, aber ich muss dir sagen, dass ich ..." Mein Kopf schnellt nach hinten und ich richte mich augenblicklich wieder auf, als ich einen großen, dunkelhaarigen Mann mit besorgtem Gesichtsausdruck entdecke.
Sein Mantel ist nass, die Haare unordentlich und die Brille teilweise beschlagen.
Laut atmen stellt er seinen Aktenkoffer ab und eilt mit großen Schritten an Kilian Bett, während ich blitzschnell aufstehe und mich entferne, sodass er und ich Plätze getauscht haben.
Ich muss nicht fragen, um zu wissen, dass es sein Vater ist.
„Wie geht es dir? Was ist passiert? Warum hast du ihn nicht gesehen?"
Während sich die Stimme seines Vaters überschlägt und er auf ihn einredet, sieht Kilian geradewegs an ihm vorbei in meine Augen.
Ich nicke langsam und setzte ein kleines Lächeln auf, bevor ich zwangsweise den Raum verlasse.
Als ich die Türe hinter mir schließe und einige Momente noch an Ort und Stelle verweile, sehe ich seine Mutter nicht.
Auch von meinem Vater und Noel fehlt erstmal jede Spur.
Seufzend lasse ich mich auf den Stuhl an der gegenüberliegenden Wand nieder und stütze meinen Kopf auf den Händen ab.
Chaos macht sich in mir breit.
Genau in dem Moment, in dem so ziemlich alles in mir explodiert ist, kam sein Vater rein und ich konnte nicht mal meinen Satz beenden.
Innerhalb einer Sekunde wurde ich aus meiner kleinen Luftblase da drin rausgerissen und nun hocke ich hier.
Tief ausatemd erhebe ich mich wieder und gehe in Richtung Warteraum, während sich plötzlich wie automatisch ein Lächeln auf meinem Gesicht bildet.
Die Freude darüber, dass ich überhaupt mit ihm reden, ihn küssen konnte und er lebt, überwiegt der Tatsache, dass ich nicht zu Ende sprechen konnte.
„Und?" Mein Vater steht lächelnd auf und Noel tut es ihm gleich, als er mich erblickt.
Ich grinse ihnen entgegen.
„Ich konnte mit ihm sprechen. Es geht ihm vorerst gut. Sein Papa ist jetzt bei ihm."
„Das freut mich."
Mein Vater nimmt mich fest in die Arme und auch Noel drückt mir einen Kuss auf die Stirn, bevor wir in Richtung Ausgang laufen.
„Bist du sicher, dass dir nichts fehlt und sie dich nicht nochmal untersuchen sollen?", will mein Vater wissen und lache kurz in mich hinein.
„Sie haben mich schon zu genüge untersucht. Ein paar Schrammen, mehr nicht."
Er seufzt und läuft dann vor.
Als mir etwas anderes in den Sinn kommt rufe ich nach meinem Vater, der sich während des Laufens zu mir umdreht und ich ihn einhole.
„Danke, dass du heute hier warst und mit mir gewartet hast, bis ich zu Kilian konnte und dass Kilian mit dabei sein durfte, als die Ärztin die Ergebnisse von Noel bekannt gegeben hat, obwohl du nichts von ihm weißt, außer seinen Namen."
Tatsächlich habe ich mich das schon seit dem letzten Aufenthalt hier gefragt, warum er nie etwas dazu gesagt hat, dass Kilian einfach so dabei war.
„Weißt du, Alva", er grinst und sieht geradeaus in die dunklen Wolken, „ich merke, dass er etwas in dir bewegt und dass er dir sehr nahe am Herzen liegt. Mehr musste ich nicht wissen."

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt