Und so vergehen die Tage und Wochen, in denen ich jeden Morgen ein Stück schwerer aus dem Bett komme. Ein Stück weniger gute Laune habe, ein Stück mehr in Gedanken festhänge und ein Stück mehr in alte, schlechte Muster verfalle. Mit jedem Tag scheine ich mich mehr abzukapseln von meinem Umfeld, meinen Freunden, meiner Familie und Kilian. Von all den Menschen, die in den letzten Monaten eine bessere Version von mir selbst geschaffen haben.
Mit jedem Tag beginne ich, wieder mehr in Gedanken an die Vergangenheit zu leben, als in der Realität und genau diese Gedanken machen die Realität, die mir eigentlich so gutgetan hat, auf einmal beinahe unerträglich. Plötzlich ist die Gesellschaft der Jungs nicht mehr lustig, sondern bloß noch bedrückend. Die Seiten meines Buches, die ich versuche zu schreiben, sind nicht mehr eine Geschichte meiner Fantasie, sondern eine Version des Lebens, das ich gerne hätte und ein Abbild meiner schlechten Gedanken. Die positive Energie, die ich auf Noel übertragen habe, um ihm aus seinem Loch zu helfen, erlischt mit jedem Tag mehr und nun habe ich die positive Energie nötig. Plötzlich ist das Selbstbewusstsein, dass Kilian mit mir aufgebaut hat, wieder ganz klein und ich fühle mich unwohl.
Und plötzlich ist seine Nähe nicht mehr befreiend, sondern bloß noch anstrengend. All die positiven Gefühle, die er mir gegeben hat, für die ich ihn so liebe, haben sich um 180 Grad gewandelt und engen mich nur noch ein. Und es nervt mich. Es nervt mich so sehr. Wie gerne würde ich mir selbst in den Arsch treten dafür, dass ich es wieder mache? Dass ich wieder alles und jeden von mir stoße und lieber in einer längst kaputten Welt in meinem Kopf lebe, nachdem ich doch erfahren habe, wie schön es sein kann, wenn man beginnt in der Realität zu leben und sie so gut zu gestalte, wie es geht?
Ich war auf dem richtigen Weg in einen Lebensabschnitt, der mir so gutgetan hat. Neue, loyale Freunde. Ein tolles Bruder und Schwester Verhältnis. Einen ehrlichen, festen Freund, der mich liebt. Ein Platz an einer guten Universität und gute Aussichten auf die Zukunft. Aber vor allem ein gutes Verhältnis zu mir selbst und meiner Vergangenheit. Ein gesunder Umgang mit Erinnerungen und Verlusten. Wie habe ich es geschafft, wieder von diesem Weg abzukommen? Was ist passiert, dass ich all das eintausche in schlechte Gedanken, Zweifel, Tränen, Schmerz und Einsamkeit? „Hör auf damit", flüstere ich mir selbst zu, schlage auf den Tisch, als ich aufstehe und greife nach meiner Lederjacke. Während ich die Tür hinter mir zuschlage und das Treppenhaus runter jogge, schlüpfe ich in die Ärmel. Als mir auf dem Campus ein eiskalter Wind um die Ohren pfeift, halte ich für einen Moment die Luft an und verschränke die Arme, bevor ich einfach loslaufe. Ohne Ziel, ohne Plan, einfach laufen, einfache Ruhe und den Kopf frei bekommen.
Tief durchatmend schließe ich für einen Moment die Augen und biege dann an der Hausecke ab, um geradewegs gegen eine Brust zu knallen.
„Was zum ...?" Verwirrt sehe ich auf und blicke in ein braunes, besorgtes Augenpaar, das mich in letzter Zeit viel zu oft genau so angesehen hat.
„Oh, Alva", sagt er unsicher und kratzt sich am Kopf. „Wollte gerade zu dir."
„Was für eine Überraschung", murmle ich und schaue nach unten, bevor er mich zur Begrüßung küssen kann.
„Ähm ..." Er wirkt nervös und die Tatsache, dass ich heute einen ganz schlechten Tag habe, ihn nicht einmal umarme, geschweige denn küsse oder ansehe, macht es ihm nicht leichter.
Er ist nicht dumm. Spätestens, seit dem Essen mit den Jungs vor ein paar Wochen, als ich mit Luan draußen gesprochen habe, weiß er, dass etwas nicht stimmt. Dass ich anders bin. Oder eher wieder die Alte? Er merkt, dass es mir nicht gut geht und ich in alte Gewohnheiten verfalle. Dass ich öfter allein und abwesend bin.
Er seufzt auf und schließt mich fest in die Arme, bevor ich protestieren kann. Für einen Moment verspanne ich mich, bis ich sein dezentes Parfüm tief einatme, seine Wärme spüre, meine Arme langsam um ihn lege und die Umarmung vielleicht auch für ein paar Momente genieße.
„Alles Liebe zum Geburtstag, mein Engel", sagt er leise und ich schließe kurz meine Augen, bevor ich mich wieder von ihm löse. Im selben Moment greift er in den Beutel in seiner Hand und zieht ein kleines Paket raus. Das gepunktete Geschenkpapier ist zerknittert und mit viel zu viel Klebeband zusammengeflickt. Die Schleife löst sich beinahe selbst wieder auf und ich muss bei dem Gedanken daran, wie verzweifelt er beim Einpacken war, kurz schmunzeln.
„Du weißt, ich brauche keine Geschenke."
„Sag einfach danke und gut ist." Seine Mundwinkel zucken nach oben.
„Danke." Er zieht mich zu sich, drückt mir einen langen Kuss auf die Stirn und legt seine kurz an meine, bevor ich wieder etwas Abstand zwischen uns bringe.
Ich sehe die Enttäuschung in seinen Augen und ich sehe die nervöse und unsichere Art und Weise, wie er mit seinen Fingern spielt. Eine Version von Kilian, die man eigentlich nicht kennt. Aber wie immer schaffe ich es, selbst die negativen Gefühle meines Gegenübers hervorzubringen und ihn selbst damit zu belasten. Da ich ihn so nicht sehen kann, wende ich den Blick ab und beginne die Punkte auf dem Geschenkpapier zu zählen.
„Meinst du wir werden mal darüber sprechen, was in letzter Zeit los ist?" Das habe ich befürchtet und genau das ist das Problem, wenn du Menschen hast, die dir nahestehen. Du musst immer so viel erklären.
„Weiß ich nicht", murmle ich teilnahmslos und schiebe die Kieselsteine mit meinem Schuh hin und her.
„Es wird nicht besser, wenn wir es totschweigen."
„Wahrscheinlich schon." Er seufzt und fühlt sich wahrscheinlich, als würde er mit einem Kleinkind sprechen, aber ich habe einfach keine Energie für so ein Gespräch.
„Alva, ich leide auch darunter, wenn du dich so verhältst." Das unsichere in seiner Stimme ist plötzlich verschwunden und ich sehe mit zusammengezogenen Augenbrauen auf.
„Du leidest?" Beinahe genervt schüttelt er den Kopf und fährt sich durch die frisch geschnittenen Haare.
„Nimm doch nicht wieder alles gleich als Angriff auf. Ich will dir doch nur helfen."
„Hör auf damit!", falle ich ihm genervt ins Wort. „Du musst nicht immer helfen, helfen und helfen. Immer überall helfen. Das ist nicht die Lösung."
Völlig verwirrt sieht er mir entgegen und lacht verdutzt auf.
„Jetzt werde ich schon dumm von der Seite angemacht, weil ich versuche die momentane Situation zu lösen, um es dir und mir angenehmer zu machen?
Alva, ich will nur dein Bestes. Unser Bestes. Wollen wir die nächsten Wochen einfach so weiter machen, wie momentan und eine Beziehung führen, in der wir gar keine Einheit mehr sind? Wir müssen ..."
„Ich kann jetzt nicht", winke ich ab und gehe an ihm vorbei in Richtung Parkplatz.
„Alva", höre ich ihn hinter mir. „Alva!", ruft er erneut, doch ich lasse mich nicht beirren, bis mich eine Hand am Arm packt und zu sich dreht.
„Ich kann jetzt verdammt nochmal nicht!", rufe ich aufgebracht, noch bevor er etwas sagen kann und reiße mich los. „Hast du das kapiert?"
Noch für ein paar Sekunden bleibe ich stehen und schau ihn an. Schaue Kilian an, der keine Worte mehr findet und absolut verdutzt scheint, dass ich ihn so anschreie, ohne wirklichen Grund. Dass ich ihn so wegstoße und lieber abhaue. Doch als ich diesen Blick und die Art und Weise sehe, wie er da steht und mich anschaut, als wäre ich eine Fremde, die er kaum wiedererkennt und er so distanziert scheint, ertrage ich es nicht weiter, wende mich endgültig ab, laufe schnellen Schrittes los und wische mir über die glasigen Augen. Diesmal läuft mir keiner mehr hinterher.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...