12 - Verständnis

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Noch bevor er antworten kann, springe ich auf und steuere mit schnellen Schritten auf den Eingang zu.
Ich wünsche mir die laute Musik zurück und hoffe, dass sie Kilians Stimme und meine Gedanken übertönt. 
„Ich hätte das nicht sagen sollen", murmle ich und fetze meinen Plastikbecher auf den Rasen.
Wieso muss ich bloß immer solche Ausbrüche haben?
Warum muss ich immer so einen Scheiß sagen? 
„Alva!" Ich ignoriere sein Rufen und weiß nicht, ob ich irgendwas zerschlagen oder weinen soll.
Solche Ausbrüche bereue ich jedes Mal.
Schon bei dem Vorfall auf dem Uni Parkplatz, als ich neben dem Auto zusammengebrochen bin, war ich unendlich sauer auf mich.
„Lass mich bitte in Ruhe", rufe ich über meine Schulter hinweg und versuche meine Tränen wegzublinzeln.
„Was ist los?" Luan, der gerade aus der Tür kommt, sieht mir verwirrt entgegen, als ich doch am Eingang vorbeilaufe. „Alva, bitte komm ..." „Hey, Kilian."
Als ich kurz langsamer werde und mich umdrehe, sehe ich das schwarzhaarige Mädchen, das sich an Luan vorbeiquetscht und Kilian entgegen grinst.
„Wir reden nachher, in Ordnung?"
Kilian scheint sichtlich genervt zu sein.
„Wieso? Musst du weg?"
Als sie ihre Hand auf seine Schulter legt, wende ich mich ab und eile weiter, um das Gelände der Hütte zu verlassen.
Ich brauche ein paar Minuten allein, um mich zu beruhigen.
Da wir mit Kilians Auto hergekommen sind, kann ich leider nicht unbemerkt abhauen. 
„Lass mich jetzt los, verdammt nochmal!"
Ich zucke bei Kilians lauter Stimme zusammen.
Die restliche Unterhaltung davor habe ich nicht mehr gehört, aber anscheinend wollte sie nicht locker lassen.
Die Musik wird wieder leiser, je mehr ich mich von dem Grundstück entferne. Umso lauter sind deswegen Kilians Schritte, die mich auf dem Waldweg verfolgen. 
„Jetzt warte bitte endlich!"
Er packt mich am Handgelenk und ich wirble zu ihm rum.
Sein Gesicht ist verschwommen und ich blinzle erneut, doch es wird nicht besser.
„Du musst ..."
„Ich will jetzt allein sein. Bitte", unterbreche ich ihn und kann überhaupt nicht beschreiben wie unglaublich bloßgestellt ich mich vor ihm fühle.
Wie ich mich selbst bloßgestellt habe. 
„Warum rennst du weg?
Warum flüchtest du immer vor mir, wenn du dich geöffnet hast?
Wieso bist du nach so einem Vorfall immer so abweisend zu mir?
Nach der Situation auf dem Parkplatz bist du mir auch aus dem Weg gegangen, das merke ich doch.
Denkst du ich lache dich danach aus oder posaune es überall rum?
Gib mir doch eine Chance, darauf zu reagieren und verschwinde nicht immer direkt hinter der nächsten Ecke.
Warum schämst du dich so vor mir?"
Ich höre Verzweiflung in seiner Stimme und er fährt sich durch die Haare, nachdem er mein Handgelenk losgelassen hat. 
„Ich wollte das alles gar nicht sagen. Weder auf dem Parkplatz, noch hier."
Meine Stimme ist leise und ich meide seinen Blick.
Voller Schamgefühl verschränke ich meine Arme. 
„Als hätten wir uns nicht schon schlimmere Sachen erzählt."
Und damit hat er tatsächlich Recht, aber irgendwie ist das trotzdem anders.
Die Trauer für einen verlorenen Menschen teilen wir.
Aber meine tiefsten Gefühle, die nur mich betreffen, nicht.
Und deswegen fällt es mir viel schwerer darüber zu sprechen.
Wahrscheinlich weil ich keine Garantie habe, dass er das versteht, so wie die Trauer um meine Mutter.
„Denkst du ich bin so ein Idiot, dass ich dich nicht ernst nehmen würde?"
Er seufzt, wendet sich ab und entfernt sich ein paar Schritte.
Mein Blick senkt sich und selbst als ich seine Stimme wieder höre, hebe ich ihn nicht. 
„Ich kann deine Unsicherheit nicht verstehen.
Ich kann nicht verstehen, warum du dich so schlecht fühlst und warum du dich nicht so akzeptierst wie du bist."
Im Gegensatz zu den Minuten davor ist seine Stimme jetzt viel ruhiger und auch ich senke den Ton, als ich sage:„Und genau das ist der Grund, warum ich dir nicht davon erzählen wollte."
Dass er mich nicht versteht war mir schon im Vorfeld klar und genau davor hatte ich irgendwie auch Angst.
Deswegen wollte ich ihn nicht an dieser Seite von mir teilhaben lassen. 
„Aber das soll kein Grund sein, mir nicht von deinen Selbstzweifeln zu erzählen."
Als er wieder auf mich zukommt erwidere ich seinen Blick und bin der Dunkelheit dankbar, da sie mir ermöglicht meine glasigen Augen zu verstecken.
„Gerade deswegen solltest du mir davon erzählen.
Nur, weil ich aus meiner Sicht keinen Grund für deine Zweifel sehe, heißt es nicht, dass ich deine Meinung nicht akzeptiere.
Es heißt nicht, dass ich nicht offen bin für deine Gefühle.
Sprich mit mir, erkläre es mir, damit ich dich verstehen kann."
Seine Stimme zerreißt mir beinahe das Herz und ich ärgere mich darüber, was für einen Einfluss Kilian jetzt schon auf mich hat.
Allein mit dieser traurigen und gleichzeitig so warmen Stimme bringt er mich schon an den Rand meiner Nerven und mir wird klar, dass das in Zukunft nicht weniger wird.
Im Gegenteil.
„Ich finde dich toll so wie du bist, und Elijah und Luan werden dir sicherlich dasselbe sagen.
Jeder, der dich kennt, wird dir dasselbe sagen.
Und das ist doch schon mal ein guter Anfang dafür, dass du das auch irgendwann über dich selbst denken kannst."
Sein Mundwinkel zieht sich kaum merkbar nach oben und ich schließe ihn in die Arme, bevor er meine Tränen bemerken kann.
Im Moment bekomme ich kein Wort raus und danke ihm stattdessen für sein Verständnis mit einer Umarmung.
Seine Worte haben mich auf der einen Seite beruhigt und auch gefreut, aber dennoch bereue ich es größtenteils immer noch, ihm davon erzählt zu haben.
Ich möchte nicht, dass er mich als die zerbrechliche Alva sieht, die mit sich selbst nicht klar kommt. Auch wenn ich das gewissermaßen nun mal bin.
„Ist alles klar bei euch?"
Ich öffne die Augen und löse mich von Kilian, als ich Luan einige Meter weiter auf uns zukommen sehe.
„Ja, alles gut. Wir kommen gleich."
Mit einem fragenden Blick sieht Kilian zu mir und nach einem kurzen Nicken folge ich ihm zurück zu den anderen.
Das Gespräch hat mich aus der Bahn geworfen, weswegen ich mich für den restlichen Abend zurückziehe und mich ans Feuer setzte.
Während ich nachdenklich auf die Flammen starre, werden die Leute um mich herum immer weniger.
Beachtung schenkt mir keiner und die wenigen, die es tun, akzeptieren, wenn ich sage, dass ich gerne allein sein möchte.
Um kurz nach vier Uhr nachts sind bis auf Elijah, Luan, Kilian, mich und drei andere Jungs alle verschwunden.
Selbst Finn ist schon gegangen.
„Alva?" Müde hebe ich den Blick vom Feuer und entdecke Luan, der etwas unbeholfen wenige Meter weiter steht.
„Kommst du rein? Wir würden jetzt schlafen gehen."
Als Antwort nicke ich bloß, bleibe aber sitzen, weswegen er sich neben mir nieder lässt.
„Ereignisreicher Abend?", fragt er nach einer Weile und ich glaube nicht, dass das eine Frage war, sondern eher eine Feststellung, schließlich hat er keine Tomaten auf den Augen. 
„Sieht so aus", meine ich matt und wende den Blick nicht von der Glut ab, die bloß noch übrig ist. 
„Kilian ist ein guter Junge.
Das klingt als wäre ich mindestens 80, würde mit weißem Bart im Sessel sitzen und gerade von meinem Sohn sprechen, aber es ist einfach so."
Ich drehe mich schmunzelnd zu ihm und auch er schenkt mir ein Lächeln.
Das ist einfach Luans Gabe.
Selbst in den schwierigsten Momenten bringt er einen zum Lächeln und das kann nicht jeder. 
„Ich meine es ernst, Alva.
Ich bin auch ein misstrauischer Mensch, aber du kannst ihm vertrauen.
Er hat nie schlechte Absichten."
Wieder zieht sich mein Mundwinkel nach oben, doch diesmal nicht wegen einem lustigen Kommentar, sondern einfach, weil er niedlich ist.
Wie er da sitzt, mit den großen blauen Augen, der positiven Ausstrahlung, obwohl er einen ernsten Gesichtsausdruck hat, und spricht so schön über seinen besten Freund.
Es erinnert mich an die Zeiten, in denen meine beste Freundin auch noch so über mich gesprochen hat.
Zeiten, die schon längst vorüber gegangen sind.
Ohne etwas zu sagen, schließe ich ihn die Arme und es erinnert mich an die Situation vorhin mit Kilian. 
„Er ist wirklich gut, Alva." 
Ich schließe die Augen und atme tief aus.
„Das seid ihr alle drei." 

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt