„Willst du noch etwas Wasser?"
Mit dem Blick auf den grauen Boden schüttle ich den Kopf und Kilian stellt den Pappbecher seufzend auf den kleinen Abstelltisch vor uns, der mir Zeitschriften überladen ist. Erschöpft lehne ich mich an seiner Schulter an und er legt seinen Arm um mich.
„Wirkt die Kopfschmerztablette schon?", höre ich seine ruhige Stimme und ich schüttle erneut den Kopf.
„Kaum." Mit gemischten Gefühlen betrachte ich mein lila rotes Handgelenk und drehe es hin und her.
„Gib Bescheid, wenn du etwas brauchst und dich dir etwas bringen soll."
Ich nicke und hebe den Kopf, als die Tür zum Wartebereich aufgestoßen wird. Mit geweiteten Augen und schneller Atmung steht mein Vater im Raum.
„Ich bin so schnell gekommen, wie es möglich war, was ist geschehen?"
Obwohl es draußen regnet und die Temperaturen uns bereits jetzt schon einen Vorgeschmack auf den kommenden Winter geben, hat er seinen Mantel geöffnet und kleine Schweißperlen spiegeln sich auf seiner Stirn.
Kilian scheint zu bemerken, dass ich noch nicht in der Lage bin, von den Geschehnissen zu erzählen, also beginnt er es meinem Vater zu erklären.
„Wir saßen alle zusammen in der Cafeteria. Alva ist irgendwann mit Noel rausgegangen, um mit ihm zu sprechen. Nach einiger Zeit sind auch meine Freunde und ich gegangen.
Gerade, als wir aus der Tür sind, haben wir die beiden entdeckt, wie Noel sie an die Wand gestoßen und sie am Handgelenk gepackt hat."
Intuitiv schiebe ich mein Handgelenk unter den Stoff meiner dünnen Lederjacke, um es vor meinem Vater zu verstecken, der sich fassungslos uns gegenüber nieder lässt.
Es ist mir irgendwie unangenehm, ihm davon zu erzählen.
„Ein Freund von mir ist direkt zu ihr gerannt und hat sich um sie gekümmert, während ich Noel von ihr fern gehalten habe.
Wir haben ihm klar gemacht, dass er verschwinden soll und als er das gemacht hat, ist er plötzlich umgekippt."
Kilians ruhige Art hat mich bis jetzt auch ein wenig entspannt, aber nun kommt alles wieder hoch und ich setzte mich aufrecht hin, um in die gläsernen Augen meines Vaters zu sehen.
„Ich habe versucht, ihm alles zu erklären. Ich habe versucht, alles aufzuklären und dem Streit ein Ende zu setzten, aber er scheint kaum bei Sinnen zu sein."
Kilian neben mir, der nichts von dem Gespräch zwischen meinem Vater und mir heute morgen weiß, legt fragend den Kopf schief, doch ich beachte ihn kaum.
„Seine Freundin hat ihn manipuliert. Ihn vollkommen gegen mich ausgespielt.
Wieso lässt Noel sowas zu? Er kennt mich sein ganzes Leben lang, im Gegensatz zu diesem Mädchen.
Ich verstehe nicht, was in letzter Zeit mit ihm los ist."
Meine Stimme wird immer lauter und aufgebrachter.
„Er hat mir absichtlich weh getan, Dad. Er hat mich verletzt. Er hat mir schreckliche Dinge an den Kopf geworfen."
Tränen treten mir in die Augen und ich senke kurz den Blick, wische sie beiseite und schaue wieder auf.
„Er hat mich verantwortlich für den Tod von Mama gemacht. Er hat mich verletzt, körperlich und verbal.
Das hat er noch nie gemacht. Noch nie.
Und ich hätte gedacht, er wäre der Letzte, der das tun würde. Diese Wut in seinen Augen, das ist nicht normal.
Und dann plötzlich dieser Wandel. Von der einen auf die andere Sekunde war die Wut weg und er war in sich gekehrt. Ruhig. Hat ohne Wiederrede das getan, was Kilian von ihm wollte und ist dann umgekippt.
Etwas stimmt nicht mit ihm. Irgendetwas stimmt nicht. Er ist nicht so. Das ist nicht er."
Ich atme tief durch, lehne mich erschöpft zurück und versuche, meine Gedanken wieder zu ordnen.
„Ich kann nicht glauben, was ich da höre." Mein Vater vergräbt das Gesicht in seinen Händen und schüttelt den Kopf.
Ich kann es selbst kaum glauben, wenn ich davon erzähle.
Natürlich habe ich keine langfristigen, schwerwiegenden Verletzungen, darum geht es auch gar nicht. Es geht um sein aggressives Verhalten mir gegenüber, das ich absolut nicht nachvollziehen kann.
Wir haben all die Jahre kaum gestritten.
Wir haben nach dem Tod unserer Mutter so gut zusammengehalten und er war immer der Positive von uns beiden, der mir geholfen hat.
Woher kommt auf einmal dieses Misstrauen und diese Wut?
Kilian legt seine Hand auf meinen Oberschenkel und seine Mundwinkel zucken kurz nach oben, als ich meinen Kopf zu ihm drehe.
Als ich mich erneut an ihn anlehnen will, wird die Tür neben meinem Vater aufgestoßen und wir zucken alle kurz zusammen.
Als wir die Ärztin erkennen, springen wir auf und stellen uns angespannt neben meinen Vater, dem es nicht anders geht.
„Sind Sie die Familienangehörigen von Noel Böhm?"
„Ja. Ich bin der Vater, das ist meine Tochter und ein Freund."
Die Ärztin sieht Kilian skeptisch an, doch mein Vater versichert, zu meiner Überraschung, es sei in Ordnung, wenn er zuhöre.
„Ich bin Alisa Mattes, die zuständige Ärztin. Ihr Sohn ist soweit stabil.
Die Bewusstlosigkeit kam durch den Konsum von viel Alkohol und Cannabis im gleichen Zeitraum zustande.
Da wir zuvor mit ihrer Tochter gesprochen haben und wussten, was zuvor geschehen ist, sind wir aufmerksam geworden, vor allem, nachdem sie auf unsere Frage hin antwortete, dass die Mutter ihrer Kinder vor über einem Jahr verstorben sei."
Mein dröhnender Kopf übertüncht für einige Momente die Stimme von der Ärztin und ich lehne mich mit wackeligen Knien an Kilian an, der seinen Arm um mich legt. Nach einen Sekunden kann ich mich wieder auf sie und ihre Stimme konzentrieren.
„Ihr Sohn leidet an der Borderline Persönlichkeitsstörung."
Die Worte der mitfühlenden Ärztin fühlen sich an, wie ein Schlag ins Gesicht. Ich bin nicht einmal in der Lage, zu meinem Vater rüber zu sehen, der keinen Mucks von sich gibt.
Auch Kilians Hand an meiner Hüfte, die mich noch fester an ihn zieht, bekomme ich kaum mit.
Eine Gänsehaut bildet sich auf meinem Körper und das letzte Mal, als ich so sehr gehofft habe zu träumen, war, als ich ebenfalls vor einem Arzt stand, der mir mitteilte, dass meine Mutter gestorben sei. „BPS zeichnet sich vor allem durch Impulsivität und Instabilität von Emotionen und Stimmung, der Identität sowie zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Es wird auch als emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs bezeichnet.
Die Betroffenen sind meist Opfer ihrer eigenen heftigen Gefühlsschwankungen, was zu extremer innerlicher Anspannung führen kann, die sie dann versuchen irgendwie zu lindern.
Selbstverletzungen, Drogeneinnahmen und weitere hoch riskante Aktivitäten löst diese Spannung etwas, jedoch kann es so schnell passieren, dass die Betroffenen ein ernstes Suchtverhalten entwickeln.
Meist fühlen sie sich innerlich zerrissen und haben extreme Angst vor instabilen Beziehungen oder vor dem Alleinsein, was vor allem durch den Tod der Mutter ausgelöst worden sein kann.
Therapien sind ..." Ich höre ihre Worte nicht mehr. Stattdessen laufe ich einfach los zum Ausgang.
Vorbei an meinem Vater, an Kilian und der Ärztin, die mir eben gesagt hat, dass mein Bruder an einer Persönlichkeitsstörung leide.
Immer wieder sage ich mir, dass das nicht sein kann. Ich gehe jegliche Situationen durch, aber ich kann es mir nicht erklären. Ich kann mir nicht erklären, wie mein Bruder, mein kleiner Bruder, mit dem ich so viel erlebt und durchgemacht habe, nun an sowas leiden kann.
„Alva!"
Kilians Stimme lässt mich kurz zusammenzucken, hindert mich aber nicht daran, weiterzugehen.
Die großen Türen kommen mir dreifach so schwer vor und ich drücke mein ganzes Gewicht dagegen, um nicht umzufallen.
Mit letzter Kraft lassen sie sich öffnen und ich stütze meine Hände auf den Oberschenkeln ab. Der eiskalte Wind weht mir entgegen und lässt sich meine Tränen ebenso kalt anfühlen.
„Komm her." Seine leise Stimme beruhigt mich kaum und ich schließe die Augen, bevor ich mich schluchzend an ihn drücke. Es stört weder ihn, noch mich, dass es wie aus Eimern schüttet.
Selbst, als meine Klamotten irgendwann durchnässt sind, hören meine Tränen nicht auf zu laufen.
„Das kann nicht sein. Noel kann das nicht haben", sage ich mit zitternder Stimme.
„Ihm ging es immer gut in dieser Hinsicht. Er war nie aggressiv. Er war nie so, wie sie es gesagt hat. Das passt alles nicht!"
„Vielleicht hat er es euch nie gezeigt", sagt Kilian nach einigen Momenten vorsichtig.
„Er ist immer noch da, Alva. Er ist immer noch bei dir.
Es gibt Therapien dafür. Ihr bekommt das in den Griff."
„Nein!", rufe ich und stoße Kilian von mir, der mir verwirrt entgegen sieht.
„Wir bekommen gar nichts mehr in den Griff. Jedes Mal passiert irgendwas Neues. Ein neuer Rückschlag für unsere Familie, die schon lange keine mehr ist.
Erst der Tod von Milan, der uns alle und vor allem mich erschüttert hat.
Dann der Tod meiner Mutter, der meinen Vater, meinen Bruder und mich erstmal auseinandergerissen hat und jetzt die Tatsache, dass mein Bruder eine beschissene Persönlichkeitsstörung hat. Jedes Mal versuchen wir, alles wieder in Ordnung zu bringen und dann passiert wieder und wieder etwas.
Kann es nicht mal Ruhe geben?"
Ich wische mir aufgebracht die Tränen aus dem Gesicht.
„Immer und immer wieder ein Schlag in die Fresse. Ich will einfach mal bloß zur Ruhe kommen.
Einfach mal Ruhe."
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...