25 - Einsamkeit

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„Wie geht es dir?"
Allein Luans Blick verrät mir, dass er von meinem misslungenen Abend vorgestern weiß. 
„Gut", antworte ich kurz und knapp und hoffe, dass er sich mit dieser Antwort zufrieden gibt.
Seit dem Abend kann ich nichts mehr in meinem Kopf ordnen.
Mir bereiten jegliche Erinnerungen bloß Kopfschmerzen und es wäre mir lieber gewesen, der Alkohol hätte mir einen Filmriss verpasst.
Ich weiß nicht einmal, was ich von all den Dingen, die an diesem Abend geschehen sind, am schlimmsten finde.
Egal, wann und wie ich beginne, mir zu überlegen, wie ich das Chaos ordne, wie ich was wieder in Ordnung bringe, ob ich es überhaupt in Ordnung bringen kann und was ich jetzt tun soll, scheitere ich und es kommt einfach rein gar nichts dabei raus.
Luan, der sich inzwischen neben mich auf die Mauer im leeren Hinterhof gehockt hat, lässt die Beine baumeln und verschränkt die Finger.
Die Tatsache, dass ich ihm am liebsten in die Arme fallen will und ihn gleichzeitig am liebsten sofort wegschicken will, verwirrt mich nur noch mehr.
Eigentlich steht die Frage danach, ob ich lieber allein sein möchte oder jemanden brauche, seit über einem Jahr im Raum und ist bis heute noch nicht von mir beantwortet.
„Ich bin einfach komplett überfordert mit der Situation", sage ich leise und beantworte mir damit die Frage indirekt, denn ich brauche jemanden.
Ich brauche jemanden, der sich einfach anhört, was ich zu sagen habe.
Ich muss aufhören, auf die Frage, wie es mir geht, gut zu antworten und zu hoffen, dass die Person nicht weiter nachfragt.
Vielleicht werde ich nicht plötzlich wieder total glücklich, wenn ich über meine Probleme spreche.
Vielleicht werden die Wunden nicht direkt heilen, wenn ich rede.
Und vielleicht bleibt der Schmerz doch noch eine Weile erhalten, wenn ich davon erzähle.
Aber es ist ein Anfang.
Ein Anfang, mir wieder etwas Neues aufzubauen.
Ja, ich kann keinen kompletten Neuanfang starten und ja, ich werde nicht plötzich eine neue Alva mit einem neuen Leben, denn wir haben nun mal Erinnerungen.
Wir haben Erinnerungen und eine Vergangenheit, die uns geprägt hat, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, und das kann ich nicht löschen.
Ich werde immer wissen, wie mein Leben einmal war, auch, wenn ich mir etwas Neues aufbaue.
Dennoch ist es ein Anfang, der mir hilft, wieder ansatzweise glücklich zu werden. Der mir hilft, das zu tun, was Milan immer wollte; Leben.
Denn das, was ich seit Monaten tue, ist nicht leben.
Nicht das Leben, das mir Milan, meine Mutter und ich selber gewünscht haben. Und genau das, was ich hier mache, ist der Anfang.
Hier zu sitzen, im Hof meiner neuen Universität, zusammen mit Luan, meinem neuen Freund, der mir zu Seite steht, und einfach ehrlich zu ihm zu sein.
Ihm ganz klar geradeaus zu sagen, ich bin überfordert.
Ich kann nicht mehr.
Mich ihm anzuvertrauen, ist der erste Schritt zur Besserung.
Indem man Gefühle teilt, egal, ob negativ oder positiv, kommt man sich näher.
Man versteht sich besser und baut Vertrauen auf.
Eine Freundschaft.
Und genau das ist so wichtig.
Wir Menschen sind nicht dazu geschaffen, allein zu sein.
Wir brauchen irgendjemanden.
Ob Freund oder Partner, wir brauchen jemanden, zu dem wir genauso ehrlich sein können wie zu uns selbst.
Dem wir alles genauso sagen könen, wie es in unserem Kopf herumschwirrt.
Denn eines der schlimmsten Gefühle, die ein Mensch haben kann, ist die Einsamkeit. Es ist eines der Gefühle, die uns von innen heraus auffressen können, und das hat es mich die ganzen letzten Monate.
Natürlich konnte mir niemand den Schmerz abnehmen oder die Tränen vermeiden.
Jedoch hätte eine Schulter, an der ich diese Tränen hätte trocknen können, mir so sehr geholfen.
Die Einsamkeit war es, die mich in dieses tiefe Loch geworfen hat.
Nach dem Tod meiner Mutter habe ich mich zu Hause allein gefühlt.
Nach dem Tod von Milan habe ich mich in der Schule allein gefühlt und nachdem ich mich von meinen Freunden distanziert habe, habe ich mich überall allein gefühlt. Doch vor allem in mir selbst.
In mir herrschte diese Einsamkeit, dieses Verlorene.
Denn ich habe mich selbst verloren.
Indem ich mich von allen abgeschottet habe, bis da niemand mehr war, hatte all diese Trauer, Wut und der Schmerz noch mehr Platz, mich einzunehmen.
Eine Träne läuft mir die Wange hinab und ich sehe zu Luan, anstatt wie üblich auf den Boden zu starren.
Es ist der Anfang, über mich zu sprechen. Über all das Leid, das mir widerfahren ist. Ich bin nicht bereit dazu, auf einen Schlag alles hinauszuposaunen, dazu ist es einfach noch zu früh.
Doch es ist ein Beginn, über meine momentanen Gefühle zu sprechen.
Ein Beginn, der mir Luan und die anderen näher bringen wird, denn ich kann nicht mehr für mich allein sein.
Ich kann nicht alles unausgesprochen in mir selbst vergraben und dort lassen.
Ein Beginn, der mir hilft, mir ein neues Umfeld aufzubauen.
Alle von mir wegzustoßen ist der falsche Weg.
Irgendwann muss ich wieder ins Leben zurückfinden.
Die Welt bleibt nicht für mich stehen und pausiert, nur, weil ich nicht in der Lage war, weiterzumachen.
Irgendwann muss ich weiterarbeiten, weiterlernen, weitermachen.
Irgendwann muss ich wieder in den ganz normalen Alltag kommen.
Ohne Heulkrämpfe abends vor dem schlafen gehen, ohne dieses stundenlange Gedanken machen über Dinge, die ich nicht mehr ändern kann.
Irgendwann werde ich wieder an meine Mutter und Milan denken müssen, ohne, dass ich anfangen muss zu weinen. Irgendwann.
Und all das kann nicht irgendwann geschehen, wenn ich nicht beginne, mich aufzuraffen.
Wenn ich nicht endlich den ersten Schritt mache.
Und der erste Schritt ist, zu sprechen.
Zu Vertrauen.
„Ich habe große Scheiße gebaut", flüstere ich und fahre mir über das feuchte Gesicht. „Ganz große Scheiße und ich weiß nicht, wie ich das wieder geradebiegen kann." Luan sieht mir traurig entgegen und ich wische mir ein paar Tränen weg.
„Ich habe viel zu viel Alkohol getrunken, habe Elijah mehrmals geküsst, bin zusammengeklappt und habe dann auch noch Lorina mit meinem Bruder rummachen gesehen, der immer noch kein Wort mit mir wechselt.
Jetzt ist es raus."
Für einige Sekunden sagt er nichts, und als ich ihm entgegen sehe, schaut er bloß auf den Boden.
„Weißt du, was Elijah für mich emfindet?", frage ich vorsichtig und bekomme ein Nicken als Antwort, als er den Kopf leicht dreht und mir wissend entgegensieht. Verzweifelt seufze ich auf und stütze meinen Kopf auf meiner Hand.
„Ich fühle mich schrecklich."
Das unfassbar schlechte Gewissen spricht aus mir und ich habe tatsächlich Angst davor, Elijah wiederzusehen. 
„Das ist jetzt wahrscheinlich der größte 0815 Ratschlag, den es gibt, aber du musst dringend mit ihm sprechen.
Schweigen macht alles nur noch schlimmer."
Seine Stimme ist leise, seine Augen voller Mitleid. 
„Ich bin einfach fertig", wispere ich und starre auf den mir gegenüberliegenden Baum. 
„Mir kommt seid der Party alles wieder hoch."
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich kneife die Augen zusammen.
„Der Tod meiner Mutter, der Verlust meiner damaligen Freunde, das beschissene Verhältnis zu meinem Bruder, der der einzige war, der mir etwas halt gespendet hat, die Selbstzweifel, mit denen ich ständig konfrontiert werde, die komplizierte Situation mit meinem Vater, die Einsamkeit, der Schmerz, die Schuld, und ..."
Meine Stimme zittert immer mehr und die letzten Worte sind kaum mehr zu verstehen. 
„Und das mit Kilian."
Erst jetzt sehe ich wieder Luan an, der den Blick nicht einmal von mir genommen hat. Wieder treten Tränen in meine Augen, wieder wird mein Atem schwer und wieder beginnt meine Unterlippe zu zittern. 
„Ich wollte es. Mein tiefstes Inneres wollte ihn einfach küssen.
Wollte einfach bei ihm sein und ihn nicht mehr loslassen, aber ich konnte nicht." Schmerz spricht aus mir und weitere Träne lösen sich, doch es ist mir egal.
Ebenso, wie die Tatsache, dass er nichts von der Sache zwischen Kilian und mir weiß. 
„Ich konnte es nicht. Ich konnte den Kuss und meine Gefühle nicht zulassen, wenn ..." Ich schlucke schwer und schließe kurz die Augen. 
„Wenn ich Milan noch so sehr liebe und vermisse."
Als ich meine Augen wieder öffne, die Tränen wegblinzle und sehe, wie Luan weiterhin ergriffen, auf einen Punkt hinter mir, starrt, drehe ich mich blitzschnell um. Als ich Kilian entdecke, der wenige Meter weiter mit leicht geöffnetem Mund steht, fängt mein Herz augenblicklich an zu rasen und ich ahne Schlimmes.
Wie erwartet dreht er sich fassungslos um und geht mit großen Schritten zurück in die Richtung, aus der er wahrscheinlich eben gekommen ist. 
„Kilian, warte!", schreie ich und stolpere ihm hinterher. 
„Bleib stehen!", rufe ich, packe ihn am Handgelenk und schrecke kurz zurück, als mich mit diesem Blick ansieht.
Es ist Schmerz, aber vor allem ist es Wut.
„Was willst du hören?!" 
„Hast du ..." 
„Ja, Alva. Ich habe es gehört.
Ich habe endlich von dir gehört, was dich ständig daran hindert, dich zu öffnen.
Was dich daran hindert, endlich aufzuhören, mich hinzuhalten.
Oder besser gesagt, wer es tut."
„Schrei mich nicht so an, du weißt doch überhaupt nicht ..."
„Ich weiß genug!", schreit er wieder, kommt dabei einen Schritt auf mich zu und greift nach meinem Arm.
Erneut schrecke ich zurück und höre Luan, der von der Mauer springt und auf uns zu kommt. 
„Ich habe so viel versucht, dir zu helfen. An dich ran zu kommen.
Deine Schale zu brechen und endlich hinter die Fassade zu sehen.
Ich habe echt so viel versucht, dir klar zu machen, wie toll du bist.
Dir zu zeigen, wie toll ich dich finde.
Immer und immer wieder hast du mich von dir gestoßen.
Und jetzt ist mir auch klar warum."
Er lacht kurz in sich hinein und fährt sich mit der Hand durch die Haare, mit der er nun endlich meinen Arm losgelassen hat. „Und was sehe ich jetzt? Mit Luan kannst du einfach mal über alles reden.
Mit Elijah kannst du einfach mal rummachen.
Aber ich? Was ist mit mir? Alles was ich bekomme sind Abweisungen.
Jedes mal aufs Neue.
Ich hatte immer Verständnis dafür, dass du verschlossen bist.
Aber mit den beiden scheint das ja dennoch bestens zu klappen.
Dein toller Freund hält nicht nur von mir fern, aber wohl nicht von den anderen."
„Du verstehst nicht, wie kompliziert das ist", sage ich leise und sehe auf den Boden. 
„Klar, alles ist immer kompliziert.
Schon verstanden. Soll ich es dir unkompliziert sagen? Du liebste einen anderen, brauchst von allen Mitleid, spielst Elijah, Luan und mich gegeneinander aus und machst es zwischen dir und jedem von uns ebenfalls kaputt."
Ich beiße mir fest auf die Unterlippe und hebe den Blick, um direkt in seine wutentbrannten Augen zu sehen. 
Dieser Schuss hat tief gesessen.
„Ich habe dir meine tiefsten Geheimnisse anvertraut und von dir bekomme ich kein Stück Ehrlichkeit."
Mit diesen Worten dreht er sich um und läuft davon.
Mein Herz tut unglaublich weh und ich versuche mein Schluchzen zu unterdrücken.
Meine Gefühle und die Ereignisse überschlagen sich, meine Knie fangen an zu zittern und ich nehme Luan kaum mehr wahr, der versucht, mir zu helfen.
Mit verschwommenem Blick schiebe ich ihn weg und versuche, mein Sichtfeld wieder klarzubekommen, bis ich schreie:„Milan ist tot!"


Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt