38 - Gegenwart

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Es herrschen einige Momente Stille, während wir uns einfach nur in den Armen liegen, doch es ist nicht unangenehm. Jeder ist in seine Gedanken vertieft und braucht kurz Zeit, um sie und sich selbst wieder zu sammeln und zu ordnen.
„Was wolltest du mir im Krankenhaus noch sagen?"
Ich schlucke schwer und bin froh, dass er im Moment mein Gesicht noch nicht sehen kann. Das habe ich beinahe vergessen.
Als er meine Unsicherheit bemerkt, löst er sich so weit von mir, dass wir uns in die Augen sehen können. Die Nähe unserer Gesichter macht mich nervös und auf einmal scheine ich von all den Dingen, die ich mir zuvor überlegt habe, ihm im Krankenhaus mitzuteilen, gar nicht mehr so überzeugt zu sein.
Als ich bloß zwischen seinen beiden Augen hin und her sehe, anstatt zu sprechen, legt er seine unverletzte Hand an meine Wange und beginnt etwas zu lächeln. Etwas überfordert öffne ich den Mund, nur, um ihn kurz darauf wieder zu schließen.
Habe ich Angst vor seiner Reaktion? Oder weiß ich bloß wieder nicht, wie ich meine Worte formulieren soll? Ich weiß es nicht. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, während er auf meine Lippen starrt und ich würde ihm am liebsten einfach um den Hals fallen und küssen. So, wie es scheint, geht es ihm nicht anders.
„Kilian! Da seid ihr ja. Sorry, dass ich störe, aber deine Mutter ist hier und will dir was vorbeibringen."
Unsere Köpfe schnellen in Richtung Luan, der hinter der Hecke hervorkommt.
Kilian seufzt und hüpft widerwillig von der Mauer, um ins Gebäude zu laufen.
Luan wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, als ich auf ihn zugehe.
„Tut mir leid, aber sie hat echt Stress gemacht." „Alles gut", erwidere ich lächelnd und Luan legt seinen rechten Arm um mich, während wir Kilian hinterhersehen, der den langen gang entlang joggt. 
„Ich freue mich für euch." Mit schiefem Kopf sehe ich zu ihm auf, doch er nickt bloß grinsend. „Na, dass ihr das endlich auf die Reihe bekommt mit euch beiden."
Wie automatisch beginne ich zu lächeln, auch wenn er mich mit der Aussage etwas überfordert. 

Seufzend werfe ich die Tür hinter mir ins Schloss und bin nicht überrascht, als ich sehe, dass Noella nicht da ist. Meine Gedanken gleichen einem einzigen Durcheinander.
Da Kilians Mutter ihn kurzfristig zum Arzt geschleppt hat, habe ich ihn nicht mehr gesehen, seit Luan unser Gespräch unterbrochen hat.
Gerade, als ich mich auf die Matratze fallen lassen will, klopft es an der Tür.
Widerwillig stehe ich auf, trotte über den hellen Boden und drücke die silberne Türklinke runter. Als ich in Kilians Augen sehe, ziehe ich überrascht die Augenbrauen hoch.
Es passiert so schnell, dass ich kaum hinterher komme, all die Eindrücke zu verarbeiten. Ich öffne den Mund, um zu sprechen, doch im beinahe selben Moment presst er seine Lippen schon auf meine und es dauert keine fünf Sekunden, bis ich sie öffne und seine Zunge spüre. Sein gesunder rechter Arm schlingt sich um meine Taille, während ich meine Hände an seine Wangen lege, an denen ich seinen drei Tage Bart spüre.
Innerhalb weniger Momente bin ich total aufgeregt und hellwach. Das Adrenalin steigt in mir hoch und ein schönes Kribbeln macht sich in mir breit. In meinem Kopf dreht sich alles, während ich ein paar Schritte nach hinten mache, bis ich die Bettkante an meinen Waden spüre.
Es scheint kaum eine halbe Sekunde zu sein, die wir den Kuss unterbrechen, als ich mich nach unten sinken lasse und das Kissen unter meinem Kopf spüre.
Zeitgleich stürzt er sich auf seinem Ellenbogen des verletzten Arms neben meinem Kopf ab. Die andere Hand fährt meine Hüfte auf und ab.
Der Kuss wird immer fordernder und es ist einer der wenigen Momente, in dem ich einmal alles vergesse und den Augenblick lebe.
Meine Hände fahren durch seine dunklen Haare und er lässt sich neben mir nieder, packt mein Bein und zieht es über seine Hüfte. Dennoch denkt keiner daran, den Kuss zu unterbrechen.
Seine Hand fährt ab meinem Oberschenkel langsam nach oben und als sie an meiner Wange ankommt, lösen seine Lippen sich so langsam und minimal von meinen, dass ich es beinahe nicht mitbekomme.
Als ich meine Augen aufschlage, seine Nähe, Wärme und Anwesenheit fühle, in diese braunen, freudigen Augen sehe, will ich lächeln, bis mir auffällt, dass ich das schon längst mache.
Denn das ist das einzige, was ich gerade will. Bei ihm sein und lächeln, weil ich einfach glücklich bin.
Ein glücklicher Moment, in dem ich auch wirklich nur dieses Glück im Kopf habe. Sonst nichts. Keine Schuldgefühle, keine traurigen Erinnerungen, nichts, was mich plagt. Es ist, als hätte ich für einen Moment alles aus meinem Kopf gelöscht und kann nichts anderes sehen, als sein Gesicht. An nichts anderes denken, als diesen aufregenden Kuss. Nichts anderes spüren, als seine Wärme und nichts anderes fühlen, als das Glück und das Kribbeln, das sich in mir breit macht.
„Ich hätte schwören können, du gehst nicht darauf ein", grinst er mich an und ich lache kurz auf.
„Aber du bist ein kleiner Rebell und bist das Risiko eingegangen?", schmunzle ich und er nickt lachend.
„Zum Glück." Seine Stimme ist so leise, dass ich sie kaum höre, während ich so auf seine Augen konzentriert bin und er mir die Haare sanft hinter mein Ohr streicht.
„Kannst du dir vorstellen, wie lange ich darauf gewartet habe?"
Ich öffne den Mund und will sagen, dass es mir gleich geht, doch dann schließe ich ihn wieder.
Eigentlich lag es doch nur an mir, dass es erst jetzt geschehen ist. Eigentlich bin ich diejenige auf die man warten musste, nicht umgekehrt.
Ich habe den Kuss nach Julians Party abgeblockt und bin gegangen.
Ich habe immer irgendwie gewusst, dass Kilian eventuell mehr möchte, bin aber keinen Schritt auf ihn zugegangen.
Dennoch war es mein erster Impuls zu sagen, dass ich auch lange darauf gewartet habe, denn tatsächlich ist es unterbewusst so.
Jetzt, nachdem der Kuss geschehen ist, denke ich mir, es ist endlich soweit.
Irgendwie habe ich die ganze Zeit darauf gewartet und mich danach gesehnt, doch war trotzdem überzeugt, dass es falsch ist.
Denn so langsam weiß ich nicht mehr, wann ich so handle, wie ich es für mich selbst in diesem Moment will und wann ich so handle, dass ich das Gefühl habe alles richtig gegenüber Milan, meiner Mutter und der Vergangenheit zu machen.
Vielleicht ist das der Punkt.
Ich muss aufhören in der Vergangenheit weiterzuleben, indem ich versuche bei jeder Entscheidung Milan und meine Mutter zu berücksichtigen.
Ich muss aufhören in der Welt zu leben, in der die beiden noch da sind. In der wir noch in einer anderen Stadt leben. In der ich noch andere Freunde und ein anderes Umfeld habe.
Denn jetzt bin ich hier. Ich bin in Berlin an einer Universität mit meinem Bruder, während nur noch mein Vater zu Hause ist. Ich bin hier mit engen Freunden, die sich nicht mehr Levi, Noah, Ella und Juna nennen, sondern Luan und Elijah.
Und ich liege auch nicht mehr mit Milan in meinem großen Zimmer in dem blauen Haus auf meinem Bett mit der Blumen Bettwäsche. Ich schaue nicht mehr in das freundliche Gesicht mit den braunen Haaren, durch die ich grinsend fahre und sehe nicht mehr in die hellen blauen Augen, die so viel Liebe ausstrahlen.
Heute und jetzt liege ich auf der weißen Bettwäsche in dem kleinen Zimmer neben Kilian. Jetzt lächelt mir ein braunes Augenpaar entgegen, die mein Gesicht mustern. Jetzt fühle ich nicht mehr Milans raue Hand an meiner Wange, sondern die weiche Hand von dem Schwarzhaarigen, der vielleicht der erste seit langer Zeit ist, der mein Herz zu erobern scheint. Heute. Hier. In der Gegenwart.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt