32 - Rückblick

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Ein Tag nach dem anderen zieht an mir vorüber. Noel und ich kehren wieder einigermaßen in den Alltag zurück.
In den Mittagspausen gehe ich oft mit Noel etwas essen und manchmal sitzen weiterhin Kilian, Elijah, Luan und ich in der Cafeteria.
Noella und Lorina würdigen mich keines Blickes, ebenso ignoriere ich sie. Obwohl Noella sowieso schon kaum im Zimmer war, lässt sie sich seit der Eskalation gar nicht mehr blicken.
Mein Vater hat weiterhin ein schlechtes Gewissen und Aaron ist wieder nach Hause gefahren.
Es scheint nach außen hin alles wieder zu sein wie vorher, doch in uns drin hat sich einiges geändert.
Kilian, Noel und ich teilen ein Geheimnis, was uns alle aus der Bahn geworfen hat. Manche mehr, manche weniger.
Noel geht zur Therapie und mein Umgang mit ihm hat sich in gewisser Weise ein wenig geändert.
Er selbst hat nun eine Bezeichnung für die das Verhalten, das er an den Tag legt, doch besser damit klar kommen tut er trotzdem noch nicht.
Wenn Kilian bei mir im Zimmer ist, wir etwas Essen gehen oder uns auf eine Bank setzten, verleitet es mich manchmal doch dazu meinen Kopf an seine Schulter zu legen und dankbar zu sein, dass er während all diesen Geschehnissen bei mir war und ich mit ihm darüber sprechen kann.
Es tut gut, einfach über ein Thema zu reden, das einen belastet und derjenige davon Bescheid weiß.
Derjenige dabei war und es miterlebt hat. Ich schätze, dass mir das bis jetzt hier in meiner neuen Heimat ein wenig gefehlt hat. Das Gefühl, dass da jemand ist, der eine schwere Situation oder ein großes Ereignis mit dir zusammen erlebt hat.
Bis jetzt habe ich bloß von solche Geschehnissen erzählt und über meine Gefühle berichtet, doch nun hat Kilian so etwas mit mir selbst erlebt und ich muss ihm nichts erklären.
Er teilt meine Erinnerungen daran und das verbindet uns. Schwere Zeiten verbinden einen immer mindestens ebenso gut wie gute Zeiten. 
„Kannst du dich noch daran erinnern, als wir das letzte Mal hier waren?", frage ich und lasse meinen Blick einmal durch den Park schweifen. Das letzte Mal waren die Bäume noch grün und standen unter blauem Himmel.
Heute sind sie kahl und müssen vergebens auf Sonnenstrahlen hoffen.
Seine Schulter, an der mein Kopf lehnt, bewegt sich und ich höre ein leises Lachen. 
„Es war schon komisch. Wir haben uns zuvor mit ein paar Freunden getroffen, beide etwas getrunken, sind dann draußen auf einer Bank gesessen und haben ohne zu zögern von unseren dunkelsten Kapiteln in unserem Leben erzählt, obwohl wir uns gerade mal eine Woche kannten.
Am nächsten Tag sind wir aufeinander zugegangen und haben gleichzeitig gefragt, ob der jeweils andere das bitte für sich behalten könne.
Ich habe dich gefragt, ob wir was Essen gehen wollen."
„Ich habe gefragt, ob das ein Date sein soll und du meintest weder zustimmend noch verneinend, dass es eine Chance sei, diese unangenehme Spannung zwischen uns wieder zu begraben", ergänze ich und wir fangen beiden an zu lachen. 
„Das war meine Umschreibung für ein Date", sagt er nach einigen Momenten und es bildet sich wie automatisch ein Lächeln auf meinen Lippen. 
„Wir sind genau hier gesessen und ich bin einfach schon wütend hier her gekommen, weil Noel sich so mies verhalten hat. Es ist irgendwie seltsam", meine ich, hebe meinen Kopf, lehne mich zurück und beobachte die vorüberziehenden Menschen. 
„Ich hatte überhaupt kein Verständnis für sein Verhalten, weil er doch immer der Positive von uns war.
Und vor allem habe ich diesen einen Satz gesagt. Ich habe gesagt, dass ich vermute, dass er die ganze Zeit über eine tickende Zeitbombe war, sich die Zündschnur mit dem Umzug hier her entzündet hat und ich nicht wissen will, was passieren wird, wenn er explodiert.
Ich fühle mich so schlecht, dass ich nicht gemerkt habe, dass hinter der positiven Fassade noch was viel tieferes steckt."
Ich lache kurz in mich hinein, schüttle den Kopf und würde am liebsten losheulen. 
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich damit Recht haben werde und vor allem hätte ich nicht gedacht, dass die Explosion so schlimm wird." 
„Damit hätte niemand rechnen können. Wahrscheinlich hat er das auch nicht erwartet", höre ich Kilians Stimme neben mir und drehe meinen Kopf zu ihm.
Auch sein Blick trifft meinen und meine Mundwinkel zucken kurz hoch. 
„Ich fand es befremdlich, dass wir so offen über solche Themen gesprochen haben, obwohl wir uns kaum kannten.
Du hast daraufhin gemeint, dass es vielleicht gar nicht so schlecht sei, direkt mit offenen Karten zu spielen, da man sich eventuell von Anfang an von seiner verletzlichen Seite zeigen muss, um Vertrauen richtig aufbauen zu können.
Ich habe viel darüber nachgedacht und ich hatte zu Beginn wirklich Angst, dass das alles gegen mich verwendet wird. Aber die Hoffnung, für das Spiel mit offenen Karten belohnt zu werden, hat sich erfüllt.
Ich vertraue dir, Kilian, wie keinem anderen seit langer Zeit. Und ich bin so dankbar dafür."
Meine Mundwinkel ziehen sich nach oben und ich weiß nicht, wann ich jemanden das letzte Mal so ehrlich und von ganzem Herzen angelächelt habe.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt