46 - Veränderungen

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Wir können uns immer anhören, was andere Menschen zu unseren Problemen oder Anliegen sagen. Wir können immer auf Freunde zugehen und uns anhören, wie sie in unserer Situation handeln und wie sie sich entscheiden würden, doch letztendlich sind wir ganz allein dafür verantwortlich, was wir machen.
Am Schluss ist man selbst die Person, die es aussprechen muss, die es machen muss und die durch ihre Entscheidungen die Folgen spüren muss, und das kann einem keiner abnehmen.
Wir können uns in so vielen Situation im Leben auf andere verlassen, Arbeit abgeben oder Dinge für uns machen lassen, aber am Schluss, wenn es darauf ankommt, was wir aus uns machen, stehen wir ganz allein da. Wir ganz allein treffen die Entscheidung unseres Lebens, da wir genau dieses ändern können, wenn wir unsere Geisteshaltung ändern.
Ein chinesisches Sprichwort besagt:„Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen Windmühlen". Vielleicht ist genau das der Fehler. Die Veränderungen kommen immer und immer wieder und es hilft mir nicht Mauern zu bauen, um mein altes Leben zu bewahren und zu hoffen, dass alles beim Alten bleibt. Ich werde immer in diesen Mauern bleiben und so tun, als wäre immer noch alles, wie es einmal war, obwohl draußen schon ein ganz frischer, neuer Wind weht, mit dem viele Dinge und Menschen gegangen und viele neue Chancen gekommen sind.
Und Noel hat Recht; ich kann dagegen solange protestieren wie ich will, was wird das verändern? Alles, was ich verändern kann, ist, anders mit dem Wandel umzugehen, die Mauern zu stürzen und Windmühlen zu bauen, um all die Veränderungen zu meinem Vorteil zu nutzen und das Beste daraus zu machen, denn genauer dieser Geisteswandel in der Zukunft und für die Zukunft ist der Punkt. Für Schwache und sich Fürchtende wie mich, ist diese Zukunft immer unerreichbar und beängstigend, aber vielleicht sollten genau diese den Mut aufbringen, die Zukunft als Chance zu sehen; und ich hatte diese Chance.
Ich hatte die Beste Chance überhaupt. Die Universität, Luan und Elijah als neue Freunde, einen tollen Bruder und die Liebe zu Kilian, aber ich habe es einfach nicht gepackt, weil ich noch nicht bereit war, die Mauern endgültig einstürzen zu lassen. Dabei liegt doch alles nur bei mir. Keiner kann dir sagen, wie du denken musst, was du machen musst, wie du leben sollst. Keiner befielt mir, ständig in der Vergangenheit zu leben oder alles kaputt zu machen, was ich mir wieder aufgebaut habe. Keiner war an all diesen Entscheidungen beteiligt, außer ich selbst. Nur ich selbst bringe mich immer und immer wieder in diese Situationen. Ich bin die Einzige, die Schuld daran ist, wie ich handle und denke. Und genauso, wie ich zu einhundert Prozent die Macht darüber habe, habe auch ich allein die komplette Macht darüber, all das zu verändern. Ich selbst habe die Macht darüber, am nächsten Morgen aufzustehen und alles anders zu machen. Alles besser zu machen, anders zu denken.
Und sobald du verstanden hast, dass du allein verantwortlich bist, allein alles ändern kannst und allein auch nichts gegen die Vergangenheit tun kannst, außer, die Zukunft besser zu machen, hast du es geschafft. Bist du auf dem richtigen Weg angekommen und kannst deine eigenen Windmühlen bauen oder alles andere machen, was du möchtest, weil es dein Leben ist.

Nicht einmal zwei Tage später packe ich die wenigen Sachen zusammen, die ich zu meinem Vater mitgenommen habe und laufe entschlossen die Treppe runter. Genauso verwirrt wie vor wenigen Wochen, als ich plötzlich hier aufgetaucht bin, schaut er mich auch jetzt an, als ich wieder verschwinde. Wieder einmal weiß er nicht, was passiert ist, was ich mache und warum, doch dieses Mal schließe ich ihn fest in die Arme. Erschöpft und doch völlig aufgedreht schließe ich die Augen.
„Mama wäre stolz auf dich", flüstere ich und weiß, ohne es zu sehen, dass er beginnt zu weinen. Dann verlasse ich das Haus in Richtung Universität; und es stimmt.
Sie wäre unfassbar stolz auf meinen Vater. Auch wenn er ein paar unüberlegte Dinge getan hat, hat er immer sein Bestes für seine Kinder gegeben. Er hatte es nicht leicht mit mir und wir haben seit ihrem Tod nicht mehr ein all zu enges Verhältnis, was meist an mir liegt, aber ich weiß ganz genau, was er für Noel macht. Ich weiß, was für eine Stütze er für ihn ist, vor allem in seiner schlimmsten Zeit nach seiner Diagnose und nach Mutters Tod.
Tränen laufen mir während des Fahrens die Wangen hinab, doch es ist anders als sonst. Es sind Tränen der Erleichterung und vielleicht auch irgendwo der Freude, denn ich kann nicht aufhören zu lächeln.
Es tut weh, begriffen zu haben, dass ich die Vergangenheit endgültig ruhen lassen und in der Gegenwart leben muss. Es tut weh zu wissen, dass der Tod von diesen geliebten Menschen endgültig geschehen ist und dass ich die Zukunft nicht mehr mit ihnen teilen kann, doch es ist gleichzeitig unfassbar befreiend. Unfassbar gut, wie viel leichter ich mich fühle und wie viel weniger die Erinnerungen an mir zerren. Ich werde sie immer bei mir tragen und niemals vergessen, aber ich klammere mich nicht mehr an sie, weil ich weiß, dass ich neue erschaffen will mit neuen Menschen in meinem Leben, die ich liebe. Ich weiß, was für ein unfassbares Glück ich habe mit solchen Freunden wie Luan und Elijah, die mir jederzeit den Rücken stärken. Ich weiß, was für eine Chance ich mit diesem Studium habe und ich weiß, dass ich jederzeit auf meine Familie zählen kann. Mir ist bewusst, was mir all das für Chancen und für eine positive Zukunft bietet, doch vor allem ist mir eines klar; Kilian und meine Liebe zu ihm ist etwas Besonderes und Einzigartiges, was ich nicht wegwerfen kann.
Ich dachte, ich würde keine Person mehr treffen, bei der ich mich so fühlen kann wie bei Milan, und in gewisser Weise stimmt das auch, denn Kilian ist nicht wie er. Das heißt nicht, dass er weniger ist, als Milan. Es heißt bloß, dass er anders gut ist, auf seine eigene Art und Weise, schließlich suche ich keinen Ersatz. All die Gefühle der Schwerelosigkeit, des Vertrauens und des Glücks ist nichts Kurzfristiges gewesen. Es war nichts für eine kurze Zeit, die nun vorüber ist. Es ist Liebe, die mir so viel bietet. So viel Gutes, was ich brauche.
Für mich war vieles selbstverständlich im Leben, bis zu dem Zeitpunkt, als ich Milan verloren habe. Selbst danach noch gab es einige Dinge, die ich nicht großartig geschätzt habe. Doch vor allem in den letzten Monaten habe ich immer mehr und mehr gelernt, wie wichtig es ist, Menschen, Liebe, Freundschaft und auch materielle Dinge zu schätzen, und ich bin dankbar. Ich habe so viel verloren und so viel war und ist kaputt, aber ich bin auch dankbar. Froh, dass sich all die neuen Türen geöffnet haben und mir endlich klar ist, auf wen und was es ankommt. Wer und was mir Chancen bietet und wichtig ist.
Ich liebe Kilian für alles, was er mir gibt und was er ist und auch wenn ich dachte, dass wüsste ich schon, wird es mir erst jetzt klar, da mir auch erst jetzt bewusst wird, dass ich ihn nicht gehen lassen kann.
Ich drücke weiter auf das Gaspedal und kann es nicht erwarten, sie alle wieder zu sehen und Kilian endlich zu sagen, dass ich weiß, was ich will. Dass ich weiß, was ich fühle und dass ich endlich weiß, wer ich bin und wer ich sein will.
Immer noch mit glasigen Augen und doch voller positiver Gefühle werfe ich mein Gepäck auf das lang unbenutzte Bett in meinem Zimmer und frage mich, wie lange genau ich weg war. Für einen Moment bleibe ich an dem großen Fenster stehen, beobachte die Studenten auf dem Platz und schließe lächelnd die Augen. Ich weiß nicht, wann es das Letzte Mal vor kam, dass ich stolz auf mich war.
Tief durchatmend öffne ich sie wieder und ich bin froh sagen zu können, dass ich bereit bin und den ersten Schritt zu der besten Version meiner selbst gewagt habe. Entschlossen laufe ich in Richtung Tür und weiß ganz genau, wo meine Beine mich als erstes hinbringen. Weiß ganz genau, was ich ihm sagen will, wie fest ich ihn umarmen und küssen will. Voller Vorfreude, Glück und Aufregung drücke ich die Klinke runter, schwinge die Tür auf, denn nichts kann mich mehr bremsen; und bleibe stehen.
Ich stehe einfach da und sehe, wie all das, was ich mir die letzten Monate aufgebaut habe, auf einen Schlag vor mir zusammenfällt. Wie all das, was ich die letzten paar Tage für mich selbst begriffen und beschlossen habe auf einen Schlag nichts mehr wert ist. Wie jegliche Vorfreude und Aufregung verschwindet und ich spüre förmlich, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht weicht und alle Gesichtsmuskeln erschlaffen. Ich spüre, wie die Energie aus meinem Körper weicht und ich muss mich an der Türklinke festhalten, damit meine Knie nicht nachgeben.
All meine Vorsätze sind wie ausgelöscht und alles, was in dem letzten Jahr passiert ist, macht plötzlich überhaupt keinen Sinn mehr und verliert jegliche Bedeutung.
Ich kann mich nicht bewegen, so tief sitzt mir der Schock in den Knochen.
Ich stehe weiter einfach da und sehe ihn an. Sehe das schwarze schliche Shirt, von denen er mindestens zehn Stück hatte, weil er den Schnitt so liebte. Sehe die dünnen Arme, die damals so trainiert waren und nun mindestens die Hälfte an Durchmesser verloren haben und den dünnen Körper, der das Shirt kaum mehr ausfüllt. Ich sehe die silberne Kette mit dem Schlossanhänger, die ich ihm zu unserem zweijährigen Jahrestag gekauft habe und die kleine, unauffällige Narbe am Kinn, die er dennoch so hasste, seit er sie als kleines Kind damals bekommen hat, weil er gegen den Tisch geknallt ist. Ich sehe die eingefallenen Wangen und den drei Tage Bart, den er sonst nie an sich schön fand und die vollen, von Natur aus schön geformten Augenbrauen, die ich immer so beneidet habe und unbedingt zupfen und schminken wollte.
Ich sehe die zerzausten Haare, die mir viel heller vorkommen als damals und ich sehe die unfassbar hellen, blauen Augen, die mir so den Kopf verdreht haben. Die immer Schuld waren, dass ich ihm nicht lange böse sein konnte und in denen ich mich immer hätte verlieren können. Die Augen, deren Ausdruck und Glanz mich immer fasziniert hat. Blaue Augen, die immer ehrlich zu mir waren und mir immer gezeigt haben, was er fühlt. Die Augen, in die ich mich verliebt habe und die ich niemals hätte aus meinem Kopf bekommen können.
Milans Augen.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt