„Ich weiß überhaupt nicht was ich sagen soll." Fast genauso überfordert wie ich setzt sich Kilian neben mich auf die schmale Treppe im hinteren Teil der Uni, auf der sich kaum einer aufhält, da die meisten die große Treppe im Zentrum des Gebäudes nutzen.
Während er total aufgedreht und außer sich scheint, bin ich ganz ruhig und stütze meinen Kopf auf den Knien, die ich mit den Armen umschlungen habe.
Ich weiß überhaupt nicht, an was ich als erstes denken soll oder was ich zuerst fühlen soll.
Soll ich wütend sein, dass er mich zu unrecht beschuldigt? Soll ich schockiert sein, dass er Drogen nimmt? Soll ich traurig sein, dass es momentan so schlecht zwischen meinem Bruder und mir funktioniert oder soll ich mich einfach unglaublich schlecht fühlen, da ich gerade vor der gesamten Cafeteria total schlecht dargestellt worden bin? Und dabei weiß ich nicht mal, was ich schlimmer finden soll. Dass die Leute zurecht denken, dass ich ein Alkoholproblem habe oder dass sie zu unrecht denken, ich hätte meinen Bruder wegen Drogen verraten.
Ich war noch nie jemand, der sehr ungern im Mittelpunkt stand und es auch nie getan hat, aber aufgrund solcher Anschuldigungen will kaum jemand von allen angeschaut werden, als wäre man nicht von diesem Planeten.
„Dachte ich mir, dass ihr hier seid." Elijah stellt seinen und Kilians Rucksack vor uns auf die Treppe und auch Luan, der zwei Meter hinter ihm gelaufen ist, platziert meine Tasche auf die Stufe, die ich in der Cafeteria zurückgelassen habe, bevor die beiden vor Kilian und mir stehen bleiben.
Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass wir uns hier aufhalten, weswegen sie sich schon denken konnten wohin wir gegangen sind, wenn wir Ruhe brauchen.
Ich bedanke mich kurz bei Luan dafür und meide dann die Blicke der drei.
Für einige Momente sagen sie nichts, bevor Elijah das Wort ergreift. „Alva." Mein Name klingt schon fast wie ein Seufzer und er geht vor mir in die Hocke, da ich auf der vorletzten Stufe sitze. „Wir sehen dich nicht anders als vorher. Egal, ob alles oder nur eine Sache davon wahr ist, bist du für uns dieselbe wie vorher."
Ich hebe den Blick, erwidere seinen Blick und mein rechter Mundwinkel hebt sich leicht bei dem Anblick seines Gesichts, dass mir liebevoll entgegen sieht.
„Womit habe ich euch bloß verdient?" Mit einem Lächeln schließe ich meine Arme um Elijahs Nacken und auch er erwidert meine Umarmung.
„Kommt her." Ich strecke meinen Arm nach Kilian und Luan aus und die beiden kommen mit einem Schmunzeln zu uns, bevor sie ihre Arme um uns legen. „Dass ich so einen Scheiß mal mache", kommentiert Luan unsere Gruppenumarmung und wir lachen über seine Bemerkung, während wir uns wieder voneinander lösen.
Ich seufze einmal und warte kurz, bis sich alle wieder aus unserer Umarmung aufgerichtet haben, bevor ich spreche. „Das mit dem Alkohol ist wahr, deswegen habe ich auch an dem Abend in der Bar nichts getrunken, als wir mit Finn, Lukas und Lara dort waren.
Leider habe ich den Alkohol zu oft dafür genutzt, mal abzuschalten, aber so will ich nicht weiter machen.
Dass ich aber meinen Vater das mit Noel verraten habe, stimmt nicht. Ich wusste nicht mal, dass er wieder Drogen nimmt und das beunruhigt mich gerade am meisten."
Tatsächlich fällt es mir nicht ganz so schwer wie gedacht mit ihnen über mein Alkoholproblem zu sprechen, allerdings bin ich auch nicht wirklich ins Detail gegangen.
Im Prinzip habe ich nichts neues gesagt, was sie nicht schon von Noel wussten und der hat zum Glück auch nicht den Grund dafür genannt. Wahrscheinlich liegt also mein im Moment nicht ganz so ausgeprägtes Schamgefühl daran, dass sie Keine Ahnung haben, wie schlimm es war und vor allem, weswegen ich das getan habe.
„Keine Sorge, Alva." Luan sieht mich ermutigend an und reicht mir die Hand, um mich von der Treppe hochzuziehen, während die anderen beiden schonmal ihre Rucksäcke nehmen, um zum nächsten Kurs zu gehen.
„Noels Mitbewohner Tim ist mein kleiner Cousin. Ich behalte ihn also über mein zweites Augenpaar im Auge." Kilian fängt an zu lachen und schüttelt den Kopf, während ich nach meiner Tasche greife, sie mir umhänge und mit meinen aufsteigenden Tränen kämpfe. „Willst du dich vielleicht noch mit ihm anfreunden, um ihn ausspionieren zu können, während wir alles über die versteckte Kamera sehen können, die du dir an dein T-shirt befestigst?", fragt er ironisch und Luan verdreht die Augen, als wir in Richtung Kursraum laufen.
„Du bist ja bloß neidisch, dass du ..." „Ich gehe auf mein Zimmer. Sagt bitte den Professoren, dass ich Bauchschmerzen oder sowas habe. Danke", murmle ich und unterbreche ihn somit, was er mir aber nicht zu verübeln scheint.
Stattdessen verstummen sie und wissen selbst nicht so recht, wie sie mit der Situation und vor allem mir umgehen sollen.
Mit leicht gesenktem Blick laufe ich an ihnen vorbei und lasse sie stehen.
Ich kann ihre Blicke noch auf mir spüren, bis ich die große Glastüre öffne, abbiege und aus ihrem Sichtfeld verschwinde. Kaum ist das geschehen, treten mir Tränen in die Augen und ich weiche den vereinzelten Studenten mit meinem Blick aus.
Mit schnellem Schritt eile ich auf mein Zimmer zu und unterdrücke mit aller Kraft meine Tränen. Stattdessen schnürt sich mein Hals zu und ich schnappe nach Luft, als ich die Türe aufstoße.
Noch im selben Moment bin ich unglaublich dankbar, dass Noella nicht da ist. Ich hatte in der ganzen Aufregung gar nicht darüber nachgedacht, dass mein Zimmer auch nicht der perfekte Ort ist allein zu sein.
Mit einem Knall schließe ich die Türe, pfeffere meine Tasche in die Ecke zwischen meinem Bett und dem Fenster und werfe mich weinend auf mein Bett.
Die Auseinandersetzung mit Noel ist kein Weltuntergang, ich weiß, dass wir uns wieder vertragen werden.
Schließlich sind wir Geschwister und lieben uns umso mehr, seit unsere Mutter verstorben ist. Aber es ist eine Auseinandersetzung, die mich wieder ein Stück weiter runter zieht.
Eine weitere Sache, die mich nun belastet. Seit dem Tod von Milan wird jede Kleinigkeit zu einer neuen Sache, die mich traurig macht und mir schlechte Laune bereitet.
Und dann kommen wieder die Moment, in denen er mir unglaublich fehlt, genau wie meine Mutter.
„Ich hasse dich!", schreie ich voller Wut und Verzweiflung und weiß selbst nicht genau, wen ich damit meine.
Das Flugzeug, das Milan nach Afrika gebracht hat? Die grausamen Menschen, die ihn, inklusive seiner Gruppe, entführt und getötet haben? Den Nachrichtensprecher, der mit emotionsloser Stimme über diese Tragödie gesprochen hat, wie über etliche weitere an diesem Tag und es ihm Endeffekt keinen interessiert?
Oder hasse ich Milan selbst dafür, dass er mich verlassen hat?
Mit lautem Schluchzen schleudere ich ein grün gestreiftes Kissen an Noellas Schrank, der meinem Bett direkt gegenüber steht.
Hustend lasse ich mich wieder auf den Rücken fallen und schließe die Augen, während ich Beine und Arme von mir strecke.
Mein Brustkorb hebt und senkt sich unregelmäßig und Tränen laufen mir die Wangen hinab, während ich am liebsten irgendwo versinken würde und nie mehr rauskommen würde.
Meine wechselnden Emotionen zwischen Wut und Trauer sind keine Seltenheit, eher ein weiterer Grund, warum meine Freunde mich wahrscheinlich satt hatten. Eigentlich war ich diejenige, die sich von ihnen abgewandt hat, aber blöd bin ich dennoch nicht. Ich habe gemerkt, dass sie mich anstrengend fanden.
Trotzdem waren sie immer für mich da, haben mich unterstützt und sind die besten Freunde, die man sich eigentlich wünschen kann, aber ich konnte so trotzdem nicht weiter machen.
Ich konnte den vier nicht mehr in die Augen sehen, nach Milans Tod.
Durch ihn habe ich sie überhaupt kennengelernt und irgendwann kamen sie mir bloß noch wie eine weitere hinterbliebene Sache vor, die er zurückgelassen hat. Eine Sache, die nun nicht mehr dieselbe ist, wie vor seinem Tod.
Die Gruppe ist einfach nicht mehr vollständig - und das hat man deutlich gemerkt.
Jeder hat in einer Gruppe seine eigene Persönlichkeit, seine eigenen Werte, die er hineinbringt.
Der eine ist vielleicht der laute, auffällige, während ein anderer eher ruhig ist und den anderen hilft, mal wieder runterzukommen.
Ein dritter ist vielleicht der Besserwisser, aber trotzdem lustig und der vierte ist vielleicht die Lady von allen und ständig nur am Aufpassen, dass nichts schmutzig wird und dass er gut aussieht.
Jeder hat seine eigene kleine Rolle, seine eigene Art, sodass zum Schluss eine bunte Mischung rauskommt, die dennoch eins ist. Eine Einheit. Eine geschlossene Kette, aus der ein Glied gerissen wurde. Ein wichtiges Glied, ohne dass es keine Verbindung mehr gibt. Keine Stabilität mehr.
Und wenn erstmal ein Glied fehlt, fällt es den anderen nicht mehr so schwer, loszulassen.
Fiel es mir nicht mehr so schwer, loszulassen.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...