„Was machst du hier?"
Ich habe von Anfang an im Gefühl, dass er nicht einfach nur hier ist, um kurz Hallo zu sagen.
Irgendetwas braucht er oder es ist etwas passiert.
Ich sehe es an seinen zusammengepressten Lippen und den leichten Falten, die sich durch die zusammengezogenen Augenbrauen gebildet haben.
„Ich muss mit dir sprechen."
Er drückt sich an mir vorbei in den Raum und lässt seinen Blick einmal durch schweifen, bis er wieder an mir hängen bleibt.
Verwirrt schließe ich die Tür, verschränke die Arme und bleibe dort stehen.
„Warst du feiern?", fragt er mit schief gelegtem Kopf und mustert mich.
Erst verstehe ich nicht, warum er das fragt, als ich jedoch in den Spiegel sehe, der schräg hinter meinem Vater steht, erschrecke ich beinahe.
Meine Schminke ist verschmiert, die Haare durcheinander, die Augen immer noch rot und dazu trage ich auch noch meine Straßenklamotten.
„Nein", antworte ich nach einigen Sekunden und konzentriere mich dann wieder auf meinen Vater, der mir immer noch nicht gesagt hat, weshalb er hier ist. Seufzend kratzt er sich am Hinterkopf.
„Ich habe nicht geahnt, wie schlimm die Situation zwischen deinem Bruder und dir ist", sagt er leise und nun lege ich den Kopf schief.
Nach dem gestrigen Abend fühle ich mich wirklich müde und erschöpft, und nun taucht plötzlich mein Vater hier auf und scheint irgendetwas auf dem Herzen zu haben.
Aufgrunddessen fühle ich mich jetzt kaum in der Lage, so laut zu werden, wie die letzten Male , aber vielleicht ist das auch ganz gut so.
„Über was sprichst du?"
Er senkt kurz den Blick und sieht mich dann wieder entschuldigend an.
„Ich wollte ihn nur schützen, Alva.
Ich wollte nie, dass das zwischen euch so ausartet."
Er macht eine dramatische Bewegung mit seinen Armen und läst sich dann auf Noellas Bettkante nieder.
Da ich immer noch nicht weiß, weshalb genau er nun hier ist, warte ich ab.
„Die Information, dass Noel wieder Drogen nimmt, habe ich von Aaron. Natürlich nicht von dir."
„Noels bester Freund?"
Nun bin ich wirklich komplett verwirrt und überrascht und lasse mich auf meinem Bett nieder, gespannt, was als nächstes kommt. Damit habe ich heute morgen auf gar keinen Fall gerechnet.
Es scheint ihm schwer zu fallen, darüber zu sprechen.
Wahrscheinlich, weil er ein schlechtes Gewissen hat.
„Vor einigen Wochen hat Aaron mich unruhig angerufen und gesagt, das er sich Sorgen um Noel mache, da er hier in Berlin eine neue Gruppe gefunden hat, die ihm Gras verschafft und mit denen er das auch viel zu oft konsumiert.
Er meinte ebenfalls, dass Noel auch von anderen Substanzen gesprochen hat, als Aaron und er einige Tage zuvor telefoniert haben, allerdings weiß er nicht genau welche.
Er war wirklich unfassbar besorgt, weil er Angst hatte, dass ..."
Mein Vater stockt und schließt den Mund. „Dass dasselbe nochmal passiert, wie kurz nach Mutters Tod, und er versucht sich mit einer Überdosis umzubringen?", vervollständige ich mit Gänsehaut seinen Satz und er nickt.
„Noel behauptet zwar bis heute, dass es nicht mit Absicht war, zu viel zu nehmen, aber ich bin weiterhin misstrauisch, Alva. Und Aaron war das auch.
Vor allem, weil Noel total traurig darüber war, nun auch noch von Aaron wegzuziehen, die einzige Person, die nach dem Tod eurer Mutter weiterhin für ihn da war und ihm etwas bedeutet hat. Außerdem hat Aaron Noel damals rechtzeitig gefunden und den Krankenwagen gerufen, bevor es zu spät war.
Aaron und Noel waren und sind ein Herz und eine Seele.
Ohne ihn hätte Noel all die Trauer nie so gut überstanden.
Und das ist der Punkt, Alva. Das ist der Grund, warum ich gelogen habe.
Als ich Noel geschrieben habe und ihm mit jeglichen Dingen gedroht habe deswegen, wollte er natürlich wissen, von wem ich das weiß.
Ich habe nicht nachgedacht und deinen Namen genannt.
Ich hätte nicht gedacht, dass das so eskaliert.
Ich konnte ihm nicht sagen, dass es Aaron war. Ist dir klar, wie sehr ihn das verletzt hätte?
Ihr beiden seid Geschwister.
Das ist etwas ganz anderes, als beste Freunde.
Ich dachte, eure Beziehung kann das abhaben und ich dachte, er wird nicht so ausflippen, schließlich warst du damals der Sache schon immer hinterher, und wolltest ihn davon abbringen, weswegen er dir nie etwas davon erzählt hat, wenn er mal wieder geraucht hat oder etwas genommen hat.
Ich habe gedacht, dass er es von Aaron als einen viel größeren Verrat ansehen würde, da er ihm einfach alles anvertraut hat und er seine größte Bezugsperson war.
Mit dir zusammen, natürlich, außer es ging um Drogen.
Ich hatte Angst, dass Noel darauf viel zu krass reagieren würde, wenn er sich so verraten fühlt von seinem besten Freund. Von der einzigen Person, die er nach all dem Mist noch hatte."
Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll.
Ich weiß nicht, ob ich schockiert sein soll, enttäuscht, wütend, dass er mich fälschlicherweise verraten hat oder froh, dass die Wahrheit endlich raus ist.
„Ich glaubs nicht", sage ich leise und schüttle den Kopf.
„Ich weiß wirklich nicht, was ich nun dazu sagen soll."
„Das verstehe ich. Ich kann das wirklich verstehen.
Ich dachte, dass sich die Lage zwischen Noel und dir bald wieder beruhigen würde, aber stattdessen wurde es immer schlimmer.
Nach dem Gespräch, dass ich gestern mit Noel über dich hatte, ist mir bewusst geworden, wie schlimm das Ganze ist. Unter normalen Umständen hätte er vielleicht nicht so schlimm reagiert wie jetzt, aber er ist komplett ausgeflippt vor Wut.
Seit Elizas Tod ist er eine tickende Zeitbombe und jegliche Kleinigkeiten lassen ihn in die Luft gehen."
„Das habe ich bemerkt", stimme ich ihm zu und tue es ihm gleich, als er aufsteht und sein Hemd glattstreicht.
„Es tut mir wirklich so leid, mein Schatz.
Ich wollte nur das Beste für deinen Bruder und habe es dabei nur schlimmer gemacht. Ich werde ihn sofort suchen und ihm alles erzählen."
„Kann ich das machen?", falle ich ihm ins Wort und öffne die Tür.
Er scheint überrascht, nickt jedoch und dreht sich im Türrahmen nochmal mit gläsernen Augen zu mir um.
„Verzeih mir, Alva"Immer noch sprachlos passiere ich den Rasen und stoße die Türen zum Hauptgebäude auf.
Die Beichte meines Vaters hat mich noch mehr aufgewühlt, als ich es sowieso nach gestern Abend schon bin und mir schwirren jegliche Aussagen durch den Kopf, die ich Noel nun an den Kopf werfen kann.
Wird er mir überhaupt glauben?
„Sorry", murmle ich, als ich ein braunhaariges Mädchen in Gedanken versunken anremple und steuere weiter auf die Cafeteria zu.
So negativ, wie er mir gegenüber momentan eingestellt ist, wird er mir diese Geschichte wohl kaum abkaufen.
Ich kann sie schließlich selbst noch kaum glauben.
Als ich den Raum betrete, mich umsehe und die drei an einem runden Tisch im hinteren Teil entdecke, stellen sich mir alle Haare zu Berge.
Bei all dem Trubel rund um meinen Vater, Noel und Aaron habe ich den Rest unbewusst zur Seite gedrängt.
Ich habe nicht bedacht, dass ich mich nun mit Elijah, mit dem ich unter Alkohol etwas hatte, mit Kilian, dem ich gestern vor einem Zusammenbruch von Milan erzählt habe und mit Luan, der die Hälfte all dieser Geschichten kennt, an einen Tisch setzen muss.
Da Luan, der mit dem Blick zum Ausgang sitzt, mich schon entdeckt hat, kann ich nicht mehr umdrehen.
Mit einem unwohlen Gefühl steuere ich auf die Jungs zu, unter denen auch nicht die beste Stimmung zu herrschen scheint.
Seit ich sie entdeckt habe, bis jetzt, als ich bei ihnen angekommen bin, haben sie nichts anderes gemacht, als wortlos auf ihr Essen zu starren.
Ich atme noch einmal tief ein, bevor ich mich vorsichtig zwischen Kilian und Luan nieder lasse.
„Hallo." Kilian und Elijah, die erst jetzt auf mich aufmerksam werden, heben beide den Kopf.
Während Elijah mich freudig anlächelt, sieht mir das andere braune Augenpaar mit gemischten Gefühlen entgegen.
Sie begrüßen mich mit einer ebenso kurzen Antwort und essen ruhig weiter.
Ich habe die sowieso schon angespannte Lage eindeutig nicht aufgelockert.
Im Gegenteil.
Umso mehr wünsche ich mir, dass Noel endlich den Raum betritt und ich ihn abfangen kann. Schließlich bin ich genau deswegen hier.
„Wie geht's dir?" Ich bekomme Kilians Worte nur halb mit, so schnell springe ich auf, als ich meinen Bruder mit Freunden am Eingang entdecke.
„Noel!", rufe ich, als ich auf ihn zugehe und er dreht sich fragend um.
Als er mich erkennt, verdreht er bloß wieder die Augen.
„Ich muss dringend mit dir sprechen. Es ist wirklich wichtig."
„Warum sollte ich das tun?", entgegnet er und ich seufze innerlich auf.
„Weil ich deine Schwester bin und dich darum bitte."
„Ich kann dich nicht daran hindern, also fang an."
Er verschränkt die Arme, während ich bloß den Kopf schüttle.
„Unter vier Augen."
„Ich habe nichts vor ihnen zu verbergen", meint er und deutet mit einer Kopfbewegung auf die vier Jungs, die hinter ihm stehen und mich skeptisch ansehen.
Als ich sie mustere, kommt mir die Gruppe der Jungs in den Sinn, von denen Aaron erzählt hat, die meiem Bruder Drogen besorgen.
„Noel, bitte." Obwohl die Wut wieder langsam in mir aufkommt, sehe ich ihn bittend an, bis er seufzt und seinen Jungs ein Zeichen gibt.
„Ich gebe dir zwei Minuten", erklärt er, als die Türen hinter uns zufallen.
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...