Herz aus Glas

6 - Drama

Nachdem Kilian und ich vorgestern noch eine Weile auf der Bank gesessen sind, haben wir uns dafür entschieden zu einem Italiener etwas essen zu gehen. Der restliche Abend bestand bloß noch daraus, dass wir irgendeinen Schwachsinn gemacht haben, die ganze Zeit am Lachen waren und über die witzigsten Geschichten gesprochen haben, die er mit Elijah und Luan erlebt hat.
Wir haben kein einziges Mal mehr über Noel, meine Mutter oder seine Schwester gesprochen, sondern uns lieber darüber amüsiert, wie Luan schon in der Grundschule der absolute Frauenheld war und Reihenweise seine Nummer verteilt hat.
Es hat gut getan zu wissen, dass ich auch so mit Kilian Zeit verbringen kann, inder wir einfach bloß lachen, obwohl nicht mal wirklich etwas lustig ist. „Denkst du an mich oder wieso grinst du so in der Gegend rum?"
Luan erscheint mit drei Büchern in der Hand neben mir, als ich am Mittag durch die Gänge laufe. 
„Tatsächlich habe ich kurz an dich gedacht", lache ich und biege rechts ab. „Aber du willst nicht wissen an was genau."
„Aha." Luan macht ein begeistertes Gesicht und fährt sich durch die braunen Haare. „So weit sind wir also schon."
Als ich verstehe, auf was er anspielt, beginne ich noch mehr zu lachen und stoße die Tür zur Cafeteria auf.
Da Elijah und Kilian noch nicht da sind, setzten wir uns an einen leeren Tisch und legen unsere Sachen ab, bevor wir uns auf den Weg zur Essensausgabe machen. 
„Wieso hängst du eigentlich immer mit uns rum und nicht mit einer der Mädchengruppen?" Seine Frage klingt mal wieder typisch nach Luan und ich nehme mir eine Cola aus dem Regal. 
„Da ich dich selbst nach knapp zwei Wochen schon gut kenne, Luan, weiß ich, dass du die Frage anders meinst, als sie rüber kommt", beginne ich meine Antwort und schmunzle weiterhin.
Luan ist sehr direkt und fragt alles, was ihn interessiert. Dabei bringt er es meistens sehr vorwurfsvoll und unfreundlich rüber, obwohl er es gar nicht so meint.
Er fragt sich bloß, warum ich überhaupt nicht daran interessiert bin, neue Mädchen kennenzulernen.
Als ich antworten will, wird die Tür der Cafeteria lautstark aufgeschlagen und unsere Blicke schnellen zu dem blonden Mädchen, das mit wütendem Blick an uns vorbei stürmt, um kurz darauf an einem der Tische stehen zu bleiben. Obwohl sie mit dem Rücken zu uns gedreht ist, kann ich mir gut vorstellen, wie sie den schwarzhaarigen Typen fixiert, der mit leicht irritiertem Blick zu ihr aufsieht. Keine Sekunde später schnellt sein Kopf zur Seite und er verharrt einige Momente in dieser Position, bevor sie wieder aus der Cafeteria marschiert, die inzwischen ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Drama gerichtet hat.
„Genau deswegen, Luan", meine ich nickend und beziehe mich wieder auf seine Frage. „Weil ihr einfach unkompliziert seid." 
Nach einer kurzen Pause setzten sich alle wieder in Bewegung und führen ihre Gespräche fort.
„Lorina Davis", beantwortet er meine unausgesprochene Frage, während ich dem Mädchen noch hinterher sehe. „Und Tristan Rode." Der besagte schwarzhaarige hält sich mit wütendem Blick die Wange und diskutiert aufgebracht mit ein paar weiteren Jungs an seinem Tisch, bevor auch er aufsteht und mit großen Schritten den Raum verlässt.
Diesmal sehen wir beide ihm verdutzt hinterher. „Die beiden könnten glatt aus einem Highschool Film stammen, so viel Drama wie es bei den beiden gibt." Kopfschüttelnd widmet sich Luan wieder seinem Essen und balanciert das Tablett in Richtung Tisch.
Auch ich stelle die kleine Schüssel mit dem Beilagen Salat neben meine Cola und lasse mich neben ihm fallen. 
„Sind die beiden ein Paar?" „Das weiß keiner so genau", erklärt er sichtlich genervt von ihnen und nimmt einen Schluck seines Wassers. 
„Mal lieben sie sich abgöttisch, mal hassen sie sich bis auf den Tod und mal sind sie einfach Freunde. Er macht ständig irgendwelchen Unsinn, sie ist enttäuscht und verzeiht ihm dann jedoch. Sie wiederum ist eine hochnäsige Zicke, er ist total genervt von ihr, versteht sich dann aber doch wieder gut mit ihr. Immer dasselbe Spiel. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er hat wieder mit einer anderen geschlafen, sie hat es mitbekommen und die Ohrfeige eben war die Antwort darauf. Später werden sie wild diskutieren, er wird sich rausreden, dass sie doch gar kein richtiges Paar waren zu dem Zeitpunkt und sie wird einknicken."
„Du kennst dich ja richtig gut aus", meine ich überrascht und nehme mir fest vor mich von diesem Drama, in Form von zwei Personen, fernzuhalten. 
„Liegt daran, dass ich ein Jahr mit Lorina zusammen war." Ich spucke beinahe meinen Salat wieder aus und weiß nicht, ob ich lachen oder Mitleid haben soll.
So genervt wie er von ihr spricht, scheinen die beiden eindeutig nicht als Freunde auseinander gegangen zu sein. 
„Irgendwie fällt es mir schwer ..." „ ... dir diese komplett abgehobene Barbie neben mir vorzustellen? Mir auch, Alva." Während Luan und ich anfangen darüber zu lachen, kommen Kilian und Elijah an den Tisch gelaufen und setzen sich zwischen uns.
„Was gibt es so lustiges?", will Kilian wissen und zieht sich seinen Pullover über den Kopf, sodass er bloß noch in einem schwarzen T-Shirt neben mir hockt. „Lorina und Tristan haben mal wieder einen Filmreifen Auftritt hingelegt." „Erzähl' mir was Neues", antwortet Elijah sichtlich unbegeistert von Luans Aussage.
Anscheinend ist das schon vor der Uni ständig passiert. 
„Ihr kennt die beiden also alle schon länger?", frage ich und nippe weiter an meinem Getränk. „Lorina und Tristan waren beide mit uns auf dem Gymnasium in einer Klasse. Keine angenehme Sache", erklärt Kilian und spätestens jetzt wird mir klar, dass kaum einer wirklich begeistert von der Blondine und ihrem Freund ist. 
„Wie konntest du nur?" Ich zucke zusammen, als die laute Stimme neben mir ertönt. Mein Kopf schnellt zu Noel, der mir mit wütendem Blick sein Handy vor mich auf den Tisch knallt.
In wenigen Sekunden überfliege ich die Nachrichten, die mein Vater und Noel ausgetauscht haben, in denen er meinem Bruder mit allen möglichen Verboten gedroht hat, aufgrund seines Drogenkonsums.
Als ich realisiere was das hier soll, fängt mein Herz doppelt so schnell an zu schlagen und ich schaue ungläubig zu meinem Bruder, der vor Wut innerlich zu toben scheint. 
„Wie kannst du bloß ..." „ ... denken, dass du unserem Vater gesteckt hast, dass ich Drogen nehme?"
Selten habe ich seine Stimme so laut und voller Zorn gehört und wenn, dann nicht mir gegenüber. 
„Das war damals ein einziges Mal, warum sollte ich ihm fast zwei Jahre später plötzlich davon erzählen?" Auf einmal fängt er an zu lachen und ich fühle mich komplett bloßgestellt. Hauptsächlich, weil uns die ganze Aufmerksamkeit der Leute gilt.
Für einen Moment sehe ich zu den Jungs und vor allem zu Kilian, der Noel völlig verständnislos und schockiert ansieht, bevor mein Bruder erneut beginnt mich anzubrüllen. 
„Tu' nicht wieder so unschuldig, wie du es immer machst, Alva. Du bist die Einzige, die es in der letzten Zeit mitbekommen hat und die Einzige, die sowas abziehen würde.
Du bist doch diejenige, die sich mit Alkohol überhaupt nicht unter Kontrolle hat und ständig abgestürzt ist. Schau erstmal selbst in den Spiegel, bevor du auf die Fehler anderer achtest!" 
„Es reicht!" Luans Faust landet auf dem Tisch, als er mit zu Schlitzen verengten Augen aufspringt. Das Knallen des Schlags hallt noch einige Momente in meinem Kopf nach, als Kilian aufsteht und mich am Arm hochzieht.
Mit einem Arm um meine Hüfte bringt er mich aus der Cafeteria, die für nichts anderes mehr Augen hat als das pure Familiendrama.
Ich bin völlig überfordert mit dieser öffentlichen Konfrontation und Bloßstellung, dass es mir wie in Zeitlupe vorkommt, als Kilian die Tür öffnet und ich mich noch ein letztes Mal umdrehe.
Während mir immer noch Löcher in den Rücken gestarrt werden, schiebt Elijah Luan und Noel auseinander, die mit bösen Blicken diskutieren.
Gerade eben noch war ich eine von denen, die die Auseinandersetzung zwischen Tristan und Lorina beobachtet hat und froh war, nicht selbst daran beteiligt zu sein und jetzt stehe ich selbst im Mittelpunkt. Im Licht der Gerüchte, ich hätte ein Alkoholproblem und wäre bekannt dafür andere Leute zu verraten. Gerüchte, die leider wahr sind.