17 - Nähe

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Mein Mund ist auf einmal wie ausgetrocknet und ich bekomme keinen Satz zustande.
In Anbetracht dessen, dass ich mich auf einer lockeren Feier befinde, im Arm von Kilian liege und dieser mir erzählt, dass seine Ex-Freundin, die ein paar Meter weiter sorglos tanzt, Schuld an dem Tod seiner Schwester hat, während im Hintergrund fröhliche Tanzmusik läuft, ist das auch verständlich.
Ebenso wenig weiß ich, wie ich mich nun verhalten soll, also richte ich mich wieder auf und sehe in ein teilnahmsloses Gesicht.
Er zuckt mit den Schultern, greift nach seinem leeren Becher auf dem Boden und steht auf. 
„Um diese Geschichte auszupacken habe ich noch zu wenig Alkohol im Körper."
Fast schon scherzhaft hebt er seinen Becher kurz in die Luft, um seine Aussage zu unterstreichen und läuft anschließend in Richtung Küche. Zurück lässt er eine völlig vor den Kopf gestoßene Alva, die zu dem besagten Mädchen rüber schielt und sich jegliche schlimme Situationen ausmalt.
Die Ex, wie sie seine Schwester entführt, die Ex, die mit einem Messer im Kinderzimmer steht, die Ex, wie sie einen Autounfall baut und die Ex, die jetzt gerade glücklich vor sich hin tanzt und mit ihren Freundinnen spricht.
„Ich hab doch nicht mehr alle Latten am Zaun", flüstere ich mir selbst zu, nehme mir vor, in Zukunft weniger Horrorfilme zu schauen und eile an den Mädchen vorbei in Richtung Küche, in der Kilian gerade einen weiteren Becher mit einem Zug leert.
„Lass uns hier verschwinden", meint er, als ich mit verschränkten Armen auf ihn zu komme und mich neben ihn an die Küchenplatte lehne. 
„Warum? Wohin willst du gehen?"
Ich hebe den Kopf und beobachte ihn von der Seite, während er weiterhin die gegenüberliegende Wand ansieht.
Seine vollen Lippen, die langen Wimpern und die schönen braunen Augen, als er meinen Blick erwidert.
Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ich unterdrücke den Drang ihn anzufassen, ihn einfach zu umarmen.
Also sehe ich weg und lausche seiner Antwort ohne Blickkontakt. 
„Egal wohin, Hauptsache mit dir. Hauptsache nicht mehr hier."
Er stößt sich von der Arbeitsplatte ab, wirft den Becher gezielt in den Mülleimer neben dem Herd und bleibt ein paar Meter weiter mit dem Blick zu mir stehen. 
„Kommst du?"
Erneut muss ich lächeln, nicke und folge ihm geradewegs aus der Tür in die kühle Abendluft. 
„Wollen wir Julian nicht auf Wiedersehen sagen?" 
„Glaub mir, den finden wir nicht mehr. Und wenn, dann auf jeden Fall nicht allein."
Ich kann mir den Rest selbst erschließen und passiere den schmalen Weg durch den Vorgarten. 
„Wegen dir müssen wir jetzt laufen", schmunzelt Kilian und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen.
Ich will ihm lachend gegen die Schulter schlagen, doch er weicht geschickt aus. 
„Mit deinem Alkoholintus ist Laufen sowieso deine einzige Möglichkeit."
Er steigt in mein Lachen mit ein und kommt schnellen Schrittes auf mich zu. 
„Wolltest du mich gerade schlagen?" 
„Ich doch nicht", presse ich unter Lachen hervor und auch mein Schritt beschleunigt sich, bis ich beginne vor ihm wegzurennen. 
„Glaubst du echt du kannst vor mir weglaufen?", ruft er mir amüsiert hinterher und joggt mir nach. „Überschätz dich nicht!", erwidere ich in Anbetracht unseres Abstands und lasse einen Schrei los, als er plötzlich anfängt schneller zu rennen und mich in wenigen Sekunden einholt.
„Lass das!"
Man versteht kaum mehr meine Worte vor Lachen, vor allem nicht, als er mich an den Beinen packt, anhebt und ich anfange zu Kreischen.
Ich klammere mich an seinem Hals fest und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge, als wir uns um die eigene Achse drehen. 
„Wenn, dann solltest du dich mal lieber nicht überschätzen, Fräulein."
Als er mich wieder runter lässt, rutschen seine Hände an meine Hüfte und er umschließt meinen Oberkörper, während ich meine Arme immer noch um seinen Hals geschlungen habe.
Ein breites Lächeln ziert immer noch meine Lippen und auch er grinst mir entgegen, während wir uns einfach bloß ansehen.
Ich weiß nicht, ob wir noch immer auf der Straße stehen oder inzwischen auf dem Gehweg gelandet sind.
Ob uns jemand sieht oder ob wir hier allein sind.
Ob wir immer noch in der teuren Wohngegend sind oder schon längst wieder auf dem langen herbstlichen Weg, mit den buntgefärbten Bäumen, der zur Universität führt.
Alles was ich sehe ist Kilian.
Seine dunklen Augen, die mir schon viel zu lange in meine sehen.
Sein schönes Lächeln, das nur mir gilt und die unglaublich liebevolle Art, wie er mich ansieht.
Das Gefühl in meinem Bauch fühlt sich merkwürdig gut an und obwohl ich spät abends im dunkeln auf einer Straße stehe, obwohl die Situation so simpel und unspektakulär ist und obwohl mir unglaublich kalt ist, fühlt die Situation sich so schön und vertraut an.
Als er mir langsam näher kommt, weiche ich nicht zurück, komme ihm allerdings auch nicht entgegen, bis er mir einen Kuss direkt auf der Stirn platziert.
Als ich die Augen wieder öffne strahlt er mir entgegen und legt seine Hände an meine Wangen.
Mit jedem Zentimeter, den er mir näher kommt, fängt mein Bauch mehr an zu Kribbeln.
Mit jedem Zentimeter wird mein Lächeln breiter und mit jedem Zentimeter werden die Stimmen in meinem Kopf, die mich tagtäglich anschreien, immer leiser.
Und im selben Moment, als seine Lippen auf meine treffen, als ich meine Augen schließe und sich eine angenehme Gänsehaut auf meinen Armen bildet, schrecke ich zurück. Meine Hände um seinen Hals lösen sich, ich trete einen Schritt zurück, seine Arme lösen sich ebenfalls und eine Kälte hüllt mich wieder ein.
Mein Lächeln ist verschwunden und ich sehe Kilian mit leicht geöffnetem Mund an, um mich zu versichern, dass ich hier gerade tatsächlich bei ihm bin.
Dass ich mit Kilian an einem Freitagabend nach einer Feier auf der Straße stehe und rumgealbert habe. Dass es Kilian ist, dem ich so nah bin. Dass es nicht Milan ist, dessen starke Hände meine Hüften auf und ab gefahren sind, dessen Lippen mir einen sanften Kuss gegeben haben und dessen Anwesenheit mich so geborgen fühlen lassen hat.
Nein, stattdessen ist es Kilian.
Ein schwarzhaariger Junge mit ständig zerzausten Locken, warmen braunen Augen und einer unfassbar anziehenden Ausstrahlung.
Ein Junge, der auf meine Universität geht, mit einem freundlichen Lächeln und den Händen in den Hosentaschen durch die Gänge läuft.
Ein Junge, der mehr in mir bewegt, als es mir lieb ist.
Der mich in Situationen geborgen und sorglos fühlen lässt, wenn ich es nicht erwarte.
Der mir so vertraut vorkommt, obwohl wir uns erst ein paar Wochen kennen.
Der irgendwie immer da ist.
Wenn ich traurig bin und weine, wenn ich glücklich bin und lache, wenn ich wütend bin und wenn ich zusammenbreche.
Er erlebt alle Facetten meiner Persönlichkeit, das ganze Chaos, das in mir herrscht und trotzdem steht er mit mir hier.
Trotzdem ist er für mich da.
In so kurzer Zeit hat er so viel von mir mitbekommen und erfahren.
Meine Selbstzweifel, meine Ausbrüche, meine schlechten und guten Phasen.
Die Tragödie um meine Mutter, ein großer Teil meiner Vergangenheit, der mich für immer verfolgen wird, der Streit mit meinem Bruder und mein Alkoholproblem.
Wie viele Menschen hätten schon längst Abstand von mir genommen?
Hätten mich schon längst als zu anstrengend, neben der Spur und verwirrt abgestempelt?
Und ja, es stimmt. All diese drei Attribute treffen auf mich zu und das wird er sicherlich auch schon bemerkt haben, aber was ist der Unterschied zu anderen?
Er hat mich noch nicht links liegen gelassen.
Selbst meinen jahrelangen Freunden in meiner alten Heimat wurde es irgendwann zu viel mit mir, auch wenn ich diejenige war, die sie letztendlich von mir gestoßen hat.
Vielleicht kommt der Punkt noch, wenn Kilian nichts mehr von mir wissen will. Wenn er jemand besseren kennenlernt und mich nicht mehr braucht oder einfach realisiert, wie unglaublich kompliziert es manchmal mit mir sein kann.
Aber jetzt im Moment ist er hier.
Jetzt steht er hier mit mir.
Jetzt ist es er, der nette Junge aus der Uni, der hier bei mir ist.
Jetzt ist die Situation perfekt, ich kann ihm nah sein, meine Arme um ihn legen, seine Berührungen genießen und froh sein, ihn kennengelernt zu haben. Stattdessen stehe ich mit beinahe zwei Metern Abstand zu ihm und sehe ein verwirrtes Augenpaar, das mir schon beinahe verletzt entgegen sieht.
Das mich fragt, warum ich ihn schon wieder wegstoße und schon wieder blockiere.
Doch er sieht nicht, was in mir vorgeht.
Er sieht nicht Milan, dessen Gesicht immer wieder vor mir auftaucht.
Er sieht nicht Milan, wie er seine Hände an meine Wangen legt, meine Tränen wegstreicht, traurig lächelt und mir verspricht, dass er wieder kommen wird und mich niemals verlässt. Niemals.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt