Als Kilian sich mit diesem undefinierbaren Blick umdreht und auch Luan neben mir sich kein Stück mehr bewegt, ist mein erster Impuls einfach wegzulaufen.
So wie jedes Mal, wenn ich etwas über mich offenbare oder Gefühle zeige.
Doch diesmal werde ich das nicht tun.
Auch wenn ich unfassbar wütend und traurig über Kilians Worte bin, werde ich ihn diesmal nicht erneut unwissend dastehen lassen und wegrenenn.
Diesmal werde ich bleiben und mich dem stellen, was jetzt kommt. Ich werde ehrlich mit ihm sprechen und ihm Antworten geben.
„Er ist letztes Jahr ums Leben gekommen", wiederhole ich und gehe langsam auf ihn zu.
Dabei nehme ich nur halb wahr, dass Luan wohl die Situation versteht und sich im Inneren des Gebäudes zurückzieht.
Ich ziehe meine Schultern zurück, strecke das Kinn minimal hoch und atme tief durch.
Die Wut ist kaum mehr spürbar. Stattdessen sieht er eher fassungslos aus und weiß nicht, wie er reagieren soll.
„Er ist vor gut einem Jahr, zwei Monate vor dem Tod meiner Mutter, nach Afrika gereist, um dort zu helfen. Im Regenwald wurde er entführt und getötet.
Seine Leiche habe ich nie zu Gesicht bekommen."
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll", flüstert er und meidet meinen Blick.
„Ich bin so ein Idiot."
„Das konntest du ja nicht wissen", erwidere ich leise und sehe an ihm vorbei.
Ich bin froh, dass sich hier im Hinterhof keiner aufhält.
Im Moment weiß keiner, wie wir uns verhalten oder was wir nun tun sollen.
Ich weiß auch nicht, wie lange es dauert, dass wir beide ins Leere starren, bis er das Wort ergreift.
„Sollen wir ein anderes mal darüber sprechen?"
„Nein." Er muss keine Sekunde auf meine Antwort warten und ich bin selbst überrascht, aber ich werde das nicht vor mich hinschieben.
Ich bin jetzt ehrlich zu ihm , genau jetzt, solange ich noch davon überzeugt bin, dass es das Richtige ist.
Da es nur ein paar Meter zu dem Gebäude sind, in dem mein Zimmer ist, biete ich ihm an, dort hinzugehen.
Der Weg fühlt sich dennoch wie eine Ewigkeit an und wir können uns beide kaum in die Augen schauen.
Es ist einfach eine unglaublich komplizierte Situation und ich bin dankbar, dass Noella die letzten Tage inklusive heute mit einem Jungen verbringt und auch bei ihm schläft.
Während Kilian sich auf meiner Bettkante niederlässt, bin ich zu nervös und durcheinander, um zur Ruhe zu kommen. „Ich konnte es dir einfach nicht sagen", beginne ich wieder das Gespräch und stehe mit verschränkten Armen vor dem Fenster, beobachte den Himmel und bin froh, dass Kilian mein Gesicht so nicht sehen kann. „Es tut mir einfach so unglaublich weh darüber zu sprechen.
Es ist gerade mal einige Monate her und es fühlt sich immer noch an wie gestern.
Es fühlt sich an, als hätte ich gestern den Anruf bekommen, dass er tot ist.
Als hätte ich gestern die Nachrichten geschaut und den emotionslosen Mann gesehen, der seinen auswendig gelernten Text über Milian und seine Gruppe vorgetragen hat.
Ein Thema von vielen an diesem Abend.
Als wäre es gestern gewesen, als ich in meinem Zimmer randaliert habe, bis ich irgendwann in der Ecke unter Tränen eingeschlafen bin.
Es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen, als meine Welt zusammengebrochen ist.
Als ich diesen unglaublichen Schmerz und diese Leere gespürt habe.
Man kann dieses Gefühl nicht beschreiben, Es ist einfach mit nichts anderem zu vergleichen."
Meine Stimme wird dünner und ich verschränke die Arme.
Würde ich nicht die leise Atmung von Kilian hinter mir hören, würde ich denken, er sei gegangen.
„Und jetzt ist es schon über ein Jahr her. Ein Jahr ist für viele Dinge wirklich lang, aber nicht für den Tod.
Nicht für den Schmerz, der durch den Tod entstanden ist. Es ist zu wenig Zeit, um das zu realisieren und zu verstehen."
Ich atme einmal tief ein und versuche, die hochkommenden Tränen zu stoppen.
„Ich erwische mich immer noch dabei, wie ich mein Handy entsperre, um ihm etwas zu schreiben, bis ich bemerke, dass die Nachricht niemals ankommen wird.
Ich erwische mich immer noch dabei, wie mir manchmal der Gedanken in den Kopf schießt, dass ich ihm nachher unbedingt von der lustigen Situation erzählen muss, die ich eben erlebt habe.
Oder kurz nach seinem Tod, als ich Dienstags vom Nachhilfeunterricht nach Hause gekommen bin und Milan gerufen habe, weil er früher immer auf meinem Bett gewartet hat um diese Zeit.
Irgendwann bin ich dann in mein Zimmer und wusste, dass ich bloß ein leeres, kühles Bett vorfinden werde, auf dem wir so viel Zeit verbracht haben und in dem ich mich nie wieder so wohl fühlen werde wie zuvor. Im Endeffekt machen nicht nur die Einrichtung un der Standort dein Haus zu einem zu Hause, sondern vor allem die Menschen, die dort leben oder oft dort sind.
Mit denen du dort viel erlebst.
Und jetzt ist es kein zu Hause mehr.
Weder unser altes Haus, noch unser Neues oder die Uni.
Ich weiß nicht, wie ich mich jemals an einem Ort wieder so wohl fühlen soll ohne die beiden."
Mit zitternder Unterlippe kneife ich die Augen zusammen und fühle die Tränen, die Meine Wangen hinab laufen.
„Wir hatten noch so viel vor, Kilian. Noch so viel.
Wir wollten noch so viel erleben. Hatten so große Träume und Visionen. Ziele. Gemeinsam. "
Meine Lippen formen sich zu einem leichten Lächeln bei der Erinnerung daran, wie wir gemeinsam geplant haben, die Welt zu bereisen, auf meinem Bett gesessen sind und die schönsten Ziele rausgeschrieben haben.
Mein Brustkorb zieht sich schmerzhaft zusammen.
„Er wollte nicht gehen", wispere ich nach einer langen Pause und vergrabe mein Gesicht in den Händen.
„Er wollte nicht nach Afrika gehen. Er wollte mich nicht so lang allein lassen und ich habe ihn überredet. Wochenlang.
Ich habe ihm wochenlang versichert, dass wir danach doch noch genug Zet haben werden für alles."
Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt noch versteht, so laut schluchze ich, als ich mich auf die Knie fallen lasse.
„Und jetzt ist er tot", weine ich verzweifelt, als ich zwei Arme spüren, die sich um mich legen.
Kilian, der sich vor mich gekniet hat, zieht mich an ihn und auch ich lege meine Arme um seinen Rücken.
Ich weiß nicht, wie lange wir vor meinem Fenster sitzen, Arm in Arm, er mir über den rücken streicht und ich weine, bis mir irgendwann bloß noch stumm Tränen die Wangen hinab laufen und ich aus dem Fenster starre und doch irgendwie nur ins Leere.
Ich weiß auch nicht, wie lange es gedauert hat, bis er mir aufs Bett geholfen, mich zugedeckt und sich zu mir gelegt hat, bis ich eingeschlafen bin.
Als ich mitten in der Nacht aufwache, ist er nicht mehr da.
Er liegt nicht mehr neben mir und ich suche Wärme bei meiner Decke, die ich enger an mich ziehe.
Mit einem Blick zu Noellas Bett, das vom Mond leicht beschienen wird, stelle ich fest, dass sie wieder nicht hier schläft.
Tief ausatmend drehe ich mich zum Fenster und starre auf den hellen Mond.
Eigentlich wollte ich ihm so viel mehr sagen.
Eigentlich entlich wollte ich ihm so viel mehr erklären und so viel mehr Antworten geben, damit er mich besser versteht.
Aber wie kann ich das, wenn ich mich selbst nicht verstehe?
Aber vielleicht kommt das noch.
Vielleicht bin ich einfach noch nicht bereit, alles zu erzählen.
Von meinem tiefsten Inneren zu erzählen und alles zu beleuchten.
Vielleicht fällt es mir noch schwer, einer Person alles von mir zu zeigen, weil ich Angst habe, dann ausgeliefert zu sein. Weil ich Angst habe, dass ich mich dann mit nichts mehr beschützen kann.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, passiert genau das, was ich vermutet habe. Ich zweifle daran, dass es richtig war, Kilian von Milan zu erzählen.
Von meinem Verlust und meinen Gefühlen zu erzählen.
Es ist dasselbe Muster wie immer. Ich breche aus, spreche hemmungsls über etwas und im nachhinein, wenn die Tränen wieder getrocknet sind und ich wieder einigermaßen bei klarem Verstand bin, bereue ich es.
Aber ich weiß, dass es richtig war.
Es ist der Beginn, von dem ich gesprochen habe.
Wir handeln im Moment mit Emotionen, direkt aus dem Herzen hinaus. Erst im Nachhinein denken wir darüber nach und schalten unseren Kopf ein.
Aber die Reaktion, die wir im Moment selbst hatten, ist die, die uns am Besten widerspiegelt, weil sie aus dem Herzen kommt.
Weil sie spontan ist.
Es ist die ehrlichste Antwort, weil wir in dem Moment nicht die Möglichkeit haben, über Konsequenzen nachzudenken.
Als es klopft, zucke ich kurz zusammen und hieve mich dann aus dem Bett zur Tür.
Ich fühle mich, als wäre ich überfahren worden und halte mir den Kopf, als ich die Tür öffne.
„Vater?"
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Herz aus Glas
Teen FictionEin Jahr ist es her, dass Alvas fester Freund verstorben ist. Der Verlust von Milan und kurz darauf der von ihrer Mutter, hat das junge Mädchen in ein tiefes Loch gerissen. Zusammen mit ihrem Vater und jüngerem Bruder, will die 19-Jährige in einer...