35 - Wege

196 17 1
                                    

Wie unter Strom zittert mein Knie und ich starre, ohne zu blinzeln, auf den grauen Boden. Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und ich kann fühlen, wie sich jedes einzelne Haar aufstellt.
Von links höre ich sich unterhaltende Menschen, von rechts höre ich ein Husten und wie jemand in Unterlagen blättert. Weiter weg höre ich ein Baby schreien und das laute Atmen meines Vaters kommt mir vor, als wäre es direkt an meinem Ohr.
Nervös lehne ich mich vor und stütze mich auf meinen Oberschenkeln ab.
Während ich innerlich explodiere und am liebsten losrennen würde, versuche ich, die Ruhe zu bewahren.
„Bist du dir wirklich sicher, dass dir nichts fehlt?", höre ich die besorgte Stimme meines Vaters, ignoriere ihn jedoch und starre stattdessen weiterhin gegen die uns gegenüberliegende, kahle Wand.
Die Situation ist unfassbar stressig und einfach unertragbar. Das Gefühl in mir ist kaum zu beschreiben und ich komme mir wie in einem schlechten Déjà-vu vor, als ich blitzschnell aufspringe und die Ärztin laut frage:„Wie geht es ihm? Wann kann ich zu ihm?"
Als sie antwortet, sie könne mir keine Auskunft geben, verweile ich einige Sekunden an Ort und Stelle, ohne mich zu regen, obwohl die Ärztin schon länsgt weg ist.
Völlig ratlos lasse ich mich auf den harten Holzstuhl zurückfallen, lasse meinen Hinterkopf gegen die Wand knallen und starre an die Decke der Notaufnahme.
Als ich die Augen schließe, löst sich eine Träne aus meinem Augenwinkel.

5 Stunden zuvor

„Wie geht es dir?"
„Ganz in Ordnung, schätze ich", antworte ich Kilian und betrete vor ihm den kleinen Aufzug des Hotels, der uns nach unten bringt.
Mein Vater und Noel sind noch nicht fertig, weswegen Kilian und ich schon los gehen, da wir sowieso in getrennten Wagen fahren.
„Danke, dass du gekommen bist." Ich lächle ihm entgegen und weiß nicht, ob ich das an diesem Morgen könnte, wenn er gestern nicht nach Berlin gekommen wäre.
„Habe ich gerne gemacht."
Ich kann meinen Blick nicht mehr von seinen Augen losreißen und seufze leise, nachdem er mir näher kommen wollte, die Türen sich jedoch geöffnet haben.
Der ältere Mann lässt uns raustreten und betritt anschließend selbst den Aufzug.
Ich bin immer noch wie benebelt, seit dem gestrigen Tag. Meine Gefühle sind ein reines Chaos und ich weiß nicht, ob ich glücklich oder traurig sein soll.
Ich habe die halbe Nacht noch über einiges nachgedacht, vor allem über Kilian und mich. Ob es mich wirklich zu einem Entschluss gebracht hat, ist eine andere Frage, aber mir sind immerhin ein paar Dinge klar geworden.
Ein paar wenige. Vielleicht.
In Gedanken lächle ich ihn an und beobachte, wie er die Straßen konzentriert entlang fährt.
Als er meinen Blick plötzlich erwidert, sehe ich weg und lehne meinen Kopf an das Fenster.
Große Felder ziehen an uns vorbei und die ersten Regentropfen prasseln auf die Scheibe. Immer wieder kommt mir die Situation zwischen Juna und mir, auf dem Friedhof, in den Sinn und immer wieder frage ich mich, ob ich nicht hätte sagen sollen, ich würde nicht wieder so handeln. Aber ich weiß es wirklich nicht.
Einerseits vermisse ich sie alle so sehr, wie kaum etwas anderes. Ich habe meine schönsten Momente unteranderem mit Juna, Ella und Noah verbracht und ich bin so dankbar für alles, was sie für mich getan haben.
Andererseits weiß ich nicht, ob es nach Milans Tod jemals wieder so geworden wäre, wie davor.
Vielleicht schon und vielleicht war ich bloß zu schwach, um uns wieder etwas aufzubauen und um gemeinsam darüber hinweg zu kommen.
Zu lernen, damit umzugehen. Stattdessen bin ich mehr oder weniger geflüchtet.
Hätte ich das jedoch nicht getan, hätte ich niemals diese Menschen kenngelernt.
Ich hätte Elijah am ersten Tag an der Uni nicht getroffen, der mich beim Brunnen angesprochen und mir geholfen hat, mein Zimmer zu finden. Ich hätte Luan und Kilian nicht getroffen, denen ich nervös gegenüberstand und sie nur mit einem schüchternen Lächeln begrüßt habe.
Es ist witzig, wenn ich darüber nachdenke, wie es heute ist, dabei ist der Anfang gar nicht so lange her.
Wäre ich nicht weggezogen, würde ich nun nicht hier im Auto mit Kilian sitzen, nachdem wir uns gestern Abend das erste Mal geküsst haben. Ich hätte aber auch nicht Noella und Lorina kennengelernt, die der Grund für diesen nervenaufreibenden Streit mit meinem Bruder waren.
Im Endeffekt hat jeder Weg, den ich in meinem Leben gegangen bin, oder auch nicht, seine Vor- und Nachteile.
Und im Endeffekt kann man an dem Geschehenen, egal, ob man an das Schicksal glaubt, oder auch nicht, nichts ändern.
Heute sitze ich hier in Kilians Auto auf dem Weg nach Berlin. Nach Hause. Ich sitze hier und spüre ein Kribbeln, als er seine Hand auf meinen Oberschenkel legt.
Ich bin hier mit ihm und lächle, lege meine Hand auf seine und schließe für einen Moment die Augen.
Und während ich heute genau hier bin, kann ich nichts gegen die Vergangenheit tun.
Ich kann nicht zurück gehen und doch nicht nach Berlin ziehen. Ich kann nicht plötzlich Milan dazu überreden, doch nicht nach Afrika zu gehen und ich kann mich jetzt auch nicht dagegen entscheiden, an diesem Abend doch nichts zu trinken und nicht abzuhauen, sodass mich meine Mutter nicht suchen gehen muss und dabei keinen Unfall baut.
Vielleicht würde ich das gerne, aber ich kann es nicht.
Und egal, ob ich mir für den Rest meines Lebens nur noch Gedanken über die Vergangenheit mache und die graue Wolke über mir niemals loslasse, oder, ob ich versuche, damit umzugehen und wieder Freude am Leben zu finden, ich kann in beiden Fällen nichts gegen die Vergangenheit machen.
Also, warum sollte ich die erste Variante wählen? Vielleicht habe ich mit diesem Gedankengang recht und vielleicht klingt das auch logisch und einfach, aber in der Praxis ist es das nicht.
Es ist schwierig, diese leichten Worte in Taten umzusetzen.
Vielleicht weil ich mehr Zeit brauche. Vielleicht bin ich aber auch einfach zu schwach und vielleicht will ich es auch gar nicht, weil mein Wunsch nach Nähe zu Milan, meiner Mutter und Levi so groß ist, dass ich Angst habe sie zu vergessen, wenn ich weiterlebe, ohne jeden Tag an den Schmerz und ihren Tod zu denken.
Erschöpft schließe ich meine Augen und umschließe Kilians Hand fester, bevor ich langsam in die Welt der Träume abrutsche.

Langsam öffne ich die Augen und versuche, mich an die Helligkeit zu gewöhnen.
Als ich nichts mehr an meiner Hand spüre, sehe ich zu Kilian, der konzentriert fährt.
„Sind wir bald da?", frage ich und er sieht kurz zu mir.
„Nur noch zwanzig Minuten", meint er und ich beobachte ihn noch kurz von der Seite. Seine dunklen Haare, die langen Wimpern und die zusammengepressten Lippen. Ich lächle, und ab dem Moment, in dem ich an seinem Gesicht vorbei schaue, aus seinem Fenster raus, geschieht alles so schnell, dass ich nicht einmal mehr einen Atemzug machen kann.
Ich will seinen Namen oder irgendetwas anderes schreien. Ich will auf das Gaspedal drücken oder ihm ins Lenkrad greifen. Ich will irgendetwas machen, um zu verhindern, dass der viel zu schnelle Geländewagen, der ungebremst aus der Seitenstraße raus kommt, in uns reinfährt, aber es ist zu spät.
Ein Ruck geht durch den ganzen Wagen und schleudert meinen Körper gegen die Beifahrertür.
Für einen Hauch einer Sekunde sehe ich Kilians Kopf, der auf unübliche Weise zur Seite geworfen wird, bevor sich der Airbag löst.
Ich spüre Schmerz, ich höre laute Stimmen und die Töne des lauten Knalls und dem brechenden Glas hallen in meinem Kopf wider.
Ich will helfen und nach Kilian sehen. Ich will meine Arme nach dem regungslosen Körper ausstreckend, den ich nur verschwommen und undeutlich durch den Rauch sehe, aber mein Körper will sich nicht bewegen, sondern schließt stattdessen meine Augen.

Jetzt

„Es ist ein Wunder", höre ich die Stimme meines Bruders murmeln.
„Ein Wunder, dass der Wagen mit viel zu hoher Geschwindigkeit in Kilians Seite gekracht ist und er nun im Krankenhaus liegt, während ich nicht mal weiß, ob er das überlebt?"
Noel dreht seinen Kopf zu mir und schüttelt leicht den Kopf.
„Ein Wunder, dass du hier sitzt und warten kannst und nicht selbst dort drin liegst." Unwissend, was ich darauf erwidern soll, wende ich mich ab und starre wieder auf die gegenüberliegende Wand.
Wieder sitze ich also hier, in einem Krankenhaus, und muss warten.
So, wie ich es schon zu oft getan habe. Wieder sitze ich unwissend hier, mache mir Gedanken und frage mich, warum mir immer und immer wieder so etwas passieren muss. Warum muss es immer und immer wieder Rückschläge geben und wieso kann ich nie zur Ruhe kommen?
Mit jedem Mal werde ich wieder weiter runter gestoßen und muss wieder mühsam hoch klettern. Weshalb ich?
Vorhin im Auto, als ich über uns nachgedacht habe, über mich und meine Gefühle, habe ich beschlossen, später mit ihm zu sprechen. Ihn später über meine Gedanken und Gefühle aufzuklären, wenn wir angekommen sind und uns in Ruhe irgendwo hinsetzen können.
Und nun bin ich hier, allein, ohne ihn, und weiß nicht einmal, ob es ein später gibt.
Ob ich überhaupt jemals wieder die Chance haben werde, mit ihm reden zu können.
Ihm zu sagen, was ich empfinde.
Denn eines ist klar; falls Kilian das nicht überleben sollte, bin ich endgültig am Ende mit meiner Kraft, meinen Nerven und mir selbst.

Herz aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt