Kapitel 6

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Er saß vor mir und wir unterhielten uns über allen möglichen Kram. Meine Schule, meinen Traumjob, den Klimawandel und andere brisante Themen, bei denen wir schnell ins Diskutieren kamen. Es war total normal und er kam mir schnell wie ein Freund vor, den ich schon länger kannte als nur wenige Stunden. 

"Und was hast du jetzt noch vor?", fragte ich ihn schließlich und er gestand traurig, dass er eigentlich schon längt auf dem Weg nach München sein sollte.

"Es tut mir wirklich schrecklich leid, aber ich werde nicht viel länger bleiben können. Die Tour muss weitergehen, aber ich würde mich freuen, wenn wir im Kontakt bleiben würden", gab er mir zu verstehen und ich nickte schwer schluckend.

"Ich würde mich auch freuen", gab ich lächelnd zu und wir umarmten uns bevor er den Raum verließ und stattdessen Alena hereinstürmte.

"Wie war es? Worüber habt ihr so gesprochen?", fragte sie ganz aufgeregt.

Ich antwortete ihr vorerst nicht, da ich die schöne Zeit, die soeben geendet war, noch einmal seelisch durchleben wollte. Er hatte mich gerettet und hatte mich noch dazu im Krankenhaus besucht und wir hatten uns sehr gut verstanden.

"Also? Nelly?"

"Es war echt nett", antwortete ich nachdenklich.

Anscheinend reichte es Alena nicht aus, da sie fragte: "Nett? Du warst mit einem der heißesten Typen der Welt zusammen in einem Raum und fandest es nur nett?"

"Wie schade, das du ihn bloß auf sein Äußeres reduzierst und den Menschen dahinter scheinbar nicht einmal wahrnimmst"

"Ach Nelly, sei doch nicht so. Also worüber habt ihr geredet?"

"Dies und das. Nichts, was dir von Bedeutung wäre"

"Ah, so weit ist es also schon gekommen. Kaum redest du eine Stunde oder zwei mit einem Weltstar und schon denkst du, du wärst etwas Besseres", ihre Stimme war kalt und irgendwie auch angsteinflößend. Verwirrt sah ich Alena an, aber bevor ich sie irgendwie besänftigen konnte, schoss sie noch hinterher:

"Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich war die ganze Zeit hier und hab darauf gewartet, dass du wieder aufwachst und so dankst du es mir?"

"Alena, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht persönlich angreifen"

"Ist schon gut, Nelly"

Sie verlies das Zimmer und lies mich von allem überwältigt zurück. Was war das denn bitte gerade? Verstand sie mich denn etwa nicht, dass ich nicht jedem gleich alle Details unseres Gespräches erzählen wollte? Obwohl ich tief in mir auch sie verstehen konnte, zumindest ein bisschen.

Anschließend klärte meine behandelnde Ärztin mich über den weiteren Behandlungsablauf auf. Sie wollten mich noch einen zusätzlichen Tag zur Beobachtung dort behalten, weil die Menge, die mir verabreicht worden war, bereits sehr gefährlich war und ich in einem schlechteren Gesundheitszustandes definitiv hätte sterben können.

Also fuhr meine Mutter mit Alena, die sich inzwischen wieder etwas beruhigt hatte, wieder nach Hause und versicherte mir, mich am darauffolgenden Tag abzuholen.

Und so verging der Tag. Es wurde Mittag, Nachmittag und Abend und noch immer, versuchte ich krampfhaft mich an irgendwas zu erinnern. Aber mehr als den jungen Mann, bekam ich nicht aus meinem Kopf.

Plötzlich klingelte das Telefon und ich nahm überrascht ab.

"Hi", meldete sich mir eine nur allzu bekannte Stimme.

"Harry? Ich dachte du musst nach München", antwortete ich ihm in seiner Muttersprache.

"Muss ich auch, aber ich wollte nochmal hören, wie es dir jetzt geht? Und ob du dich noch an mehr erinnern kannst"

"Ganz gut. Aber ich weiß nicht mehr als du. Ich glaube er hat mich angesprochen und einen Drink ausgegeben, aber ich weiß nicht, was danach noch alles passiert", meine Stimme brach am Ende etwas ein, weil es mich noch immer sehr bedrückte nicht zu wissen was passiert war und wie ich darauf reagiert hatte.

"Warst du schon bei der Polizei?", erkundigte er sich und ich fühlte mich irgendwie gut dabei. Mit ihm zu sprechen tat mir gut, seine Stimme zu hören war schön, wenn ich doch nur nicht hier feststecken würde. Aber sonst hätte ich ihn sicherlich nie kennengelernt, also hatte es doch etwas Positives für sich.

"Noch nicht", antwortete ich unsicher und gleichzeitig mit einem unwohlem Gefühl.

"Aber du gehst noch hin, oder?"

"Ich weiß es noch nicht"

"Nelly, bitte. Es hätte sonst was passieren können. Tu es für dich. Du wirst dich danach sicher erleichterter fühlen", versuchte er mir mit seiner dunklen Stimme sanft Mut zu zusprechen.

"Und wenn mir keiner glaubt?"

"Ich kann es doch bezeugen und Mitch war auch dabei. Keine Sorge, ich lass dich da nicht alleine durchgehen. Tu mir bitte den Gefallen und melde es", seine ruhige Stimme ließ mich fast dazu verleiten es zu glauben. Aber das durfte ich nicht zulassen. Auch wenn er mir beistehen würde. 

"Worüber denkst du jetzt nach?", fragte er.

"Wie gerne ich dir den Gefallen tun würde, aber ich kann es nicht. Ich könnte nichts aussagen, weil ich mich an nichts mehr erinnern kann", versuchte ich ihm meinen Gedankengang offen zu legen.

"Ok. Du musst dich mit deiner Entscheidung wohlfühlen und dann kann ich dich nicht dazu zwingen, wenn du es nicht willst", gab er nach.

"Danke", hauchte ich in den Hörer, während sich eine oder zwei oder ein paar Tränen mehr sich der Schwerkraft ergaben und den Weg über meine Wangen nach unten suchten.

"Ist das Nelly?", hörte ich jemanden im Hintergrund laut rufen und sofort schlich sich sowohl bei mir, als auch hörbar bei ihm ein Grinsen auf die Lippen. 

"Ja", antwortete er noch immer lachend und man hörte sofort, wie die nächste Frage gestellt wurde: "Wie geht es ihr?"

"Gut", meinte ich, bevor ich mich mit "Dann will ich euch mal nicht länger stören. Schönen Abend noch", verabschiedete und ihm keine Gelegenheit gab noch irgendwas zu entgegnen.

Und da lag ich nun wieder, allein in einem kleinen Zimmer, schwachen gelblichen Deckenlicht und einem ganz mulmigen Gefühl. Die Stille machte mich nervös und schaffte es in gewisser Weise mir wirklich Angst einzuflößen. 

Wieso war das plötzlich so? Wieso ließ ich überhaupt zu, dass mir der Typ Angst machte? Hier war ich sicher, wieso sollte er auch nochmal kommen. Er könnte sich jedes andere Mädchen auf jeder möglichen Party gefügig machen. Er könnte es und er wird es auch weiter können, wenn ich nicht gehe. Ich muss einfach gehen. Vielleicht kann die Polizei ihn ja fassen.

Plötzlich nahm ich ein leises Geräusch an der Tür wahr und sah, wie sie sich langsam öffnete. Panik stieg in mir hoch und mein Puls schoss um das doppelte gefühlt in die Höhe. Kurz bevor die Tür so weit geöffnet war, dass ich hätte sehen können, wer es war, stürzte ich mich auf der Tür abgewandten Seite hinters Bett und zog meine Beine an meine Brust.

Bitte, oh, bitte, spielte sich das Alles gerade nur in meinem Kopf ab.


OVER AGAINWo Geschichten leben. Entdecke jetzt