Kapitel 29

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Ich versuchte mich zu beruhigen und nicht wie ein kleines Kind weinend auf dem Weg stehen zu bleiben, aber jedes seiner Worte hallte bei mir im Kopf nach. Von morgen an würde ich die neue "Schlampe der Nation" sein und ich hatte keine Ahnung was ich dagegen machen sollte und konnte. Sie alle hatten uns zusammen gesehen und Harry konnte noch so viel unsere Beziehung verneinen, sie würden es ihm nicht glauben. Er hatte bereits den Ruf eines Casanovas.

Ich stolperte der Gruppe hinterher, in der Harry ziemlich verzweifelt lächelnd nach mir Ausschau hielt und immer wieder laut um Verzeihung bat und dass er nun gehen müsste, aber die meisten von den Teenagern interessierten seine Bitten nicht. Bild über Bild wurde geschossen und auch er schien immer mehr seine Fassade bröckeln zu lassen. Ich musste ihm irgendwie helfen.

Ich drängte mich durch die Masse durch zu Harry, der mich erleichtert in seine Arme schloss und uns versuchte zurück zum Auto zu schieben. Seine starken Arme drückten die uns zusammenquetschenden Teenager so gut es ging weg, sodass wir Ewigkeiten später ins Auto einsteigen konnte und erleichtert die Flucht ergriffen. Wir schwiegen für einige Zeit, bis er schließlich sagte:

"Es tut mir so leid, Nelly. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass schon so viele um diese Uhrzeit da unterwegs sind. Ich wollte dir nur einen kleinen Eindruck von Venice Beach zeigen, aber ich wollte dich keinesfalls in eine solche Lage bringen. Geht es dir gut?", seine Stimme klang furchtbar verletzt und aufrichtig und ich konnte erkennen wie sehr auch er an der eben stattgefundenen Situation an Kraft eingebüßt hatte.

"Mir geht es gut", sagte ich noch leicht zitternd und setzte die Sonnenbrille ab. Meine Tränen hatte ich getrocknet und dennoch spiegelte sich in meinen Augen eine große Welle an Gefühlen wieder. Von Angst bis Scham und Wut. 

"Es tut mir wirklich leid, Nelly. Vielleicht sollten wir lieber nach Hause fahren und dort etwas machen, in Ordnung?", sein Blick wanderte kurzzeitig zu mir und er erkannte meine Furcht. Er ließ eine Hand vom Lenkrad zu mir und wischte vorsichtig eine gerade herunterrollende Träne weg.

"Ja", antwortete ich nur und vergrub mich in meinen Gefühlen. Nichts würde mir gerade helfen über sie hinweg zu kommen. Auch Harry nicht. Er verstand mich offensichtlich ohne weitere Kommunikation, denn er stellte das Radio an und wir beide hörten Shawn Mendes beim Singen zu. Das war genau das, was ich nun brauchte. Die Musik und der Blick nach draußen auf den strahlenden Sonnenschein und die Prachtbauten von Los Angeles.

Obwohl die Musik mich ablenkte, kam mir die Fahrt ewig vor und ich war fürchterlich erleichtert, als er schließlich den Blinker setzte und wir auf sein Grundstück fuhren. Hier war ich vor den Blicken, der vorbeifahrenden Autofahrern, geschützt und ich wollte nun nichts mehr außer zu schlafen und meine Ruhe zu haben. Schlagartig wurde mir Harrys Leben so nah gebracht, dass ich am liebsten schlagartig einen Rückzieher davor gemacht hätte, mich jemals wieder mit Harry zu zeigen. Aber ich mochte ihn und ich konnte das auch nicht machen.

"Wollen wir noch einen Film gucken oder etwas spielen?", fragte er mich und sah mich mit einem aufmunternden Blick an.

"Meinetwegen", gab ich mich geschlagen und folgte ihm durch sein Haus, das viel zu groß war.

Wir sahen uns eine romantische Komödie an und unterhielten uns danach nach über eigentlich völlig belanglose Dinge. Am Abend kochten wir uns etwas zu essen. Zumindest versuchten wir es, da weder er noch ich wirklich gute Köche waren. Die Nacht schritt schnell voran und die immer wiederkehrende Müdigkeit zwang uns beide früh ins Bett. 

In der Nacht träumte ich von unserem Treffen mit den Jungs. Sie sahen mich prüfend an und lachten dann über mich und fragten, wie Harry denn an solch eine herangekommen war und ob er mich in der Gosse aufgelesen hatte. Auch seinem prüfenden Blick musste ich mich aussetzen, bis er schließlich den anderen laut lachend zustimmte. Er könne jede haben und er müsse sich nicht mit jemandem wie mir abgeben, riefen sie lachend und Harry stimmte ihnen bei jeder Anmerkung zu. Ich spürte wie ich immer kleiner wurde und jedes ihrer Worte mich schrumpfen ließ. 

Unregelmäßig atmend schreckte ich endlich hoch. Ich versuchte meine Atmung zu verlangsamen und verspürte dabei ein ungutes Gefühl. Ich konnte da heute nicht hin. Nicht nach dem was gestern passiert war. Wenn sie es gelesen hatten oder die Bilder gesehen hatten und dann erfuhren, dass ich ein Niemand war, der keine Chance bei Harry haben sollte, dann würden sie mich doch gleich abschießen und mich ignorieren.

Ich drehte mich um und versuchte die Augen zu schließen und an etwas Schönes zu denken. Eine Ausflug mit meinen Freundinnen ans Meer oder einen Nachmittag mit einem netten Buch in meinem Zimmer unter einer Wolldecke und die leisen Regentropfen, die an die Fensterscheibe prasseln. Doch mehr als diese künstlich erzeugten Bilder konnte ich nicht schaffen. Frustriert drehte ich mich immer wieder um, bis ich schlussendlich aufstand und mich ins angrenzende Badezimmer schleppte.

Ich hatte die Hoffnung, dass mir eine kleine Dusche helfen könnte, die Sorgen von mir zu schütteln und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Einen klaren Kopf, den ich später bestimmt brauchen würde. Doch auch die Dusche verfehlte ihre erwünschte Wirkung und somit trat ich verschlafen und völlig fertig aus dem Bad und sah, dass ein ebenso müde dreinblickender Harry in meinem Zimmer stand. Sofort verfestigte sich mein Griff um mein Handtuch und ich sah ihn überrascht an.

Als er mich erblickte, schloss er sofort die Augen und entschuldigte sich mehrmals, während er den Weg zur Tür suchte. 

"Alles gut. Was wolltest du denn?", fragte ich ihn und er antwortete nur kurz:

"Ich wollte dich nur holen. Liam ist eben angekommen und wir wollten gemeinsam frühstücken. Du kannst dich ja schnell anziehen und dann kommst du runter?", schlug er vor und ich bejahte es. 

Ich zog mich schnell an, band meine noch etwas feuchten Haare zusammen, legte mein liebstes Bodyspray auf und betrachtete mich dann erneut mit einem kritischen Blick im Spiegel. 

"Na gut", sagte ich zu mir selbst, während ich noch mein Aussehen betrachtetet, "aus einer Ente ein Model zu machen wäre auch zu viel verlangt gewesen. Außerdem kann es mir ja sowieso egal sein, was er von mir denkt, schließlich ist das alles hier eine einmalige Sache. Oder etwa nicht?"

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