Kapitel 27

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Als wir uns langsam wieder voneinander lösten, öffnete ich meine Augen und versuchte noch immer zu realisieren, was gerade eben passiert war. Nie hätte ich nach seiner ganzen Zurückweisung erwartet, dass er tun würde, was er gerade getan hatte.

"Tut mir leid, Nelly. Wir hätten das nicht machen sollen", erklärte er von sich und seiner eben stattgefundenen Handlung selbst geschockt und drehte sich augenblicklich wieder dem Ausblick auf Hollywood zu.

"Schon gut. Du hast vermutlich recht", bestätigte ich seine Worte und versuchte die aufsteigenden Enttäuschung zurück zu halten. Es hatte sich richtig und gut angefühlt und ich verstand nicht, wieso Harry es nicht gespürt hatte, aber das hatte ich zu akzeptieren. Was sollte ich auch anderes tun. 

"Hast du Hunger?", schoss es plötzlich aus ihm heraus.

"Hunger? Nein, nicht wirklich", antwortete ich leicht stumpf. Ich konnte jetzt nicht essen, aber ich konnte Harry auch nicht hängen lassen, also fügte ich noch hinzu: "Aber wenn du Hunger hast, dann ess ich mit dir"

Er lächelte mich verschmitzt an und meinte dann: "Gut. Ich fahre"

Er lief vor zu der Garage, in der mehrere übertrieben teuer aussehende Autos ihren Platz hatten. Sein Weg brachte uns zu einem dunklen Range Rover, in dem er und ich Platz nahmen. Noch immer herrschte zwischen uns Stille und es überkam mich ein Gefühl der Beklommenheit. Was sollte ich nur machen?

"Möchtest du Musik hören?", erkundigte er sich und sah mir dabei in die Augen. Ich nickte bloß lächelnd und wartete ab, wohin Harry mich bringen würde. Einen kleinen Ausblick auf Los Angeles hatte ich zwar schon genießen können, aber diese Stadt umgaben so viele Geheimnisse und Gerüchte, sodass ich es kaum erwarten konnte noch mehr zu sehen und zu entdecken. 

"Mochtest du es früher hierher zu kommen?", entfuhr mir die Frage, während ich mein Blick über die vorbeiziehenden Häuserreihen schweifen ließ, und ich sog augenblicklich meine Lippen ein. Ein Gespräch über das Thema zu beginnen war vielleicht etwas unangebracht. Er sah mich von der Seite forschend an und meinte dann:

"Ich mag es immer noch herzukommen. Los Angeles hat seinen ganz eigenen Charme. Zudem leben viele meiner Freunde hier und es ist eine Stadt mit unbegrenzten Möglichkeiten. Es gibt eigentlich nichts was es nicht gibt und als junger, abenteurlustiger Mensch, gibt es doch eigentlich nichts Besseres. Aber je älter man wird, auch wenn man nicht unbedingt erwachsener wird, so verändern sich doch die Interessen und Ansichten auf die Welt. LA macht Spaß, aber es ist nichts für immer"

"Und sehen das die anderen auch so?"

"Niall, Louis und Liam?", erkundigte er sich und ich antwortete interessiert:

"Ja. Habt ihr je darüber gesprochen, was ihr machen wollt, wenn es die Band als das was sie mal war nicht mehr gibt?"

"Natürlich, aber wir haben die Band gegründet als wir alle noch in der Schule waren. Wir haben nie etwas anderes gemacht um Geld zu verdienen, was natürlich traumhaft ist, aber es einem leicht den Blick für das wirklich Wichtige und andere, neue Perspektiven vernebeln kann. Niall wollte weg und sich endlich seit langem mal wieder anders fühlen und auch ich musste mich selbst dazu zwingen von dem arbeitsphanatischen Menschen, zu dem uns Modest und unser Plattenlabel gemacht hatten, wieder zu distanzieren um mein Blick neu fokussieren zu können und auch wirklich wieder Lust zu haben Musik zu schreiben"

Für einen Augenblick war es still zwischen uns und nur das Radio klimperte mit den selben, alten, abgenutzten Songs vor sich her. Seine Miene schien nachdenklich geworden zu sein und augenblicklich hinterfragte ich meine Entscheidungen wieder. Ich wusste nie wirklich was ich wann fragen sollte um ihn nicht mit Fragen zu durchlöchern. Er sollte bei mir nicht das Gefühl entwickeln, das ich ein Interview mit ihm führte.

"Hast du dir eigentlich schon überlegt, was du nach deinem Abschluss machen möchtest?", erkundigte er sich und sah mich gespannt an.

"Einiges, aber jedes mal wenn ich denke, dass ich genau das Richtige für mich gefunden habe, kommen wieder Zweifel in mir auf. Ist das wirklich das was du willst oder schlägt dein Herz doch für etwas Anderes? Würdest du diesen Beruf wirklich für den Rest deines Lebens machen wollen? Und jeden Schritt den ich dann nach vorne machen, beantwortet mein Kopf mit zwei Schritten nach hinten", versuchte ich ihm meine Situation bildlich darzulegen.

"Ich kann mir vorstellen, dass es schwer sein muss seine Leidenschaft zu finden"

"Aber du hast sie doch schon längst gefunden, oder nicht? Wolltest du nicht schon immer Musik machen und hat sich dein Traum nicht erfüllt? Du bist doch der geborene Star. Du hast eine traumhafte Stimme, siehst gut aus und besitzt Charisma und kannst durch deine natürlich herzlich wirkende Art die Mädchenherzen zum Schmelzen bringen", unterbrach ich ihn und stand dabei viel im Blickkontakt mit ihm.

"Vielleicht ist das so, aber dennoch zweifle ich doch an mir. An dem was ich mache und wie die Menschen auf meine Person und meine Musik reagieren werden. Ich habe immer damit gekämpft etwas zu finden wofür mein Herz bedingungslos schlägt. Einen Traum, den ich hinterherjagen kann, aber den habe ich nie gefunden. Musik ist das, was dem noch am ehesten entsprechen würde", erklärte er und ließ dabei einige Nuancen von Gefühlen durchblicken.

"Tut mir leid, Harry", gab ich kleinlaut von mir und mich überkam ein Gefühl von Bedeutungslosigkeit. Egal wofür ich mich entscheiden würde, so könnte ich es doch nie schaffen eine Masse an Menschen zu erreichen wie es bei Harry der Fall war. Wenn ich im Büro arbeiten würde, dann würde der Radius meiner Beeinflussbarkeit sehr gering sein. Ich wollte die Welt verändern zum Guten und ich wollte es schaffen Werte und Gefühle zu transportieren, sodass jeder Mensch etwas für sich finden konnte. 

"Mach dir keinen Kopf, das machst du dir schon genug. Genieße bitte einfach die nächsten Tage, sie werden wie immer viel zu schnell vorbeigehen und dann bleibt uns bloß die Erinnerung an die Zeiten, die mal waren", erzählte er melancholisch.

"Fühlst du dich so, als ob die Erinnerungen alles wären, was dir von der Band geblieben ist?", erkundigte ich mich und sah ihn fragend an.

"Manchmal schon. Manchmal fühlt es sich an, als ob das Geschehene Meilen weit von mir entfernt ist und mir keine Möglichkeit bleibt um die Zeit und die Erinnerungen vor dem Zerfall zu schützen. Aber Erlebnisse, so schön sie auch immer sein mögen, sind endlich"

"Ich mag gar nicht daran denken, dass ich nur noch für ein paar Tage bei dir bin und ich danach wieder nach Deutschland fliege. Es fühlt sich nicht so an, als ob es endlich sein dürfte", erwähnte ich meine Gedanken, die ich schon seit einigen Stunden hatte.

"Ja, aber wir sollten jetzt kein Trübsal blasen, sondern uns eher über die Zeit freuen, die wir noch zusammen haben und sie genießen. So jung kommen wir schließlich nie mehr zusammen"



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