Kapitel 45

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Harrys Sicht:

Mein Herz stoppte für einen kurzen Moment. Ich musste mich verhört haben. Nein, es gab keine andere Möglichkeit, als das ich mich verhört hatte. Jeder Gedanke daran, dass Nelly nie wieder ihre Augen aufschlagen könnte, versetzte mich in unfassbare Schmerzen und ließ mich Tränenflüssigkeit in meinen Augen anstauen. Und obwohl dieser Schmerz mich durchfuhr, so schien er doch irreal zu sein und weder für mich, noch für andere greifbar.

"Setzen Sie sich am besten", meinte der Arzt und zeigte auf einen Stuhl, der vor einem Schreibtisch stand. Ich setzte mich schwer schluckend dorthin und beobachtete jede seiner Bewegungen, die wie in Zeitlupe vor meinem inneren Auge wirkten. 

"Bitte verfallen Sie nicht in Panik. Wir können eine endgültige Diagnose erst ab dem Zeitpunkt erstellen, an dem wir alle Testergebnisse vorgelegt bekommen. Im Moment sollten Sie also möglichst noch versuchen sich zu beruhigen und nicht zu schlecht zu denken. Wenn Sie Glück haben, ist alles halb so wild und Sie wird bald wieder zu Ihnen können", erklärte er, aber ich glaubte ihm kein Wort. Er müsste schon eine ganz schön miese Dramaqueen sein, wenn er mir erst erzählte, dass sie nie wieder aufwachen könnte und dann meint, dass wieder alles gut wird. Denn mich beschlich mehr und mehr das Gefühl, das es nicht so gut um Nelly stand.

"Haben Sie schon die Eltern oder andere Verwandte informiert?", erkundigte sich nun der Arzt bei mir und ich blickte zu ihm auf. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich meinen Blick auf den Boden gerichtet hatte.

"Nein, ich sollte sie am besten sofort verständigen, wenn es so schlimm ist wie sie sagen. Aber sie werden sicherlich einen Tag brauchen um hierher zu kommen?"

"Leben sie so weit weg?", erkundigte er sich verwundert.

"Ja. Sie leben in Deutschland und bis sie hier sind, das würde etwas dauern. Gibt es denn noch etwas, was ich wissen muss, bevor ich mit ihnen telefoniere?"

"Beschreiben Sie ihnen die Situation und das eine eindeutige Diagnose noch nicht erstellt werden kann, aber sie am besten kommen sollten, wenn es sich einrichten lässt", erzählte er und ich griff sofort zu meinem Handy und wählte die Nummer von Nellys Mutter Susann. Es klingelte einige Male, bevor sich die Mailbox meldete. Verzweifelt lief ich vor der Tür auf und ab. Ich musste sie unbedingt erreichen. Sie musste wissen was hier vor sich ging. 

"Harry", erklang eine mir nur allzu bekannte Stimme. Ich drehte mich um und sah Liam und Louis auf mich zustürzen.

"Was ist mit ihr? Weißt du schon mehr?", erkundigte sich Liam, während er auf mich zukam.

"Eine ganze Diagnose kann er wohl erst erstellen, wenn alle Testergebnisse eingegangen sind, aber er meinte, dass es nicht gut aussieht", meinte ich und kämpfte schon wieder mit den Tränen. Ich spürte wie sich jemand mir näherte und mich in eine Umarmung schloss. Er drückte mich ganz fest an sich und machte es so etwas erträglicher. Wieso hatte ich sie nicht schon früher hierher gebracht.

"Hast du ihre Eltern schon angerufen?", erkundigte sich nun Louis und sah mich mitfühlend an.

"Nein, ich war gerade dabei, aber ich erreiche sie nicht", erklärte ich und versuchte es sofort noch einmal. Aber dieses wie auch jedes weitere Mal, bei dem ich es versuchte, meldete sich bloß die Mailbox. Ich konnte sie einfach nicht erreichen. Es vergingen gefühlte Stunden, mit hunderten Anrufen, bis mich der Arzt wieder in sein Zimmer bat.

"Ich habe die Ergebnisse des MRTs, des CTs, der Blutuntersuchung und auch einer Nervenwasseranalyse. Der Befund, der sich durch diese Ergebnisse mir aufdringt, ist alarmierend. Ihre Freundin hat eine Meningitis", erklärte er und ich versuchte schlagartig nach irgendetwas zu suchen, dass mir helfen könnte zu verstehen, was gerade hier ablief. War das alles bloß ein böser Traum und würde gleich neben einer ruhig schlafenden Nelly aufwachen?

"Ich verstehe, dass sie gerade verwirrt sind, aber lassen sie es mich bitte erklären", meinte er und ich merkte erst jetzt, dass ich mich vom Stuhl erhoben hatte. War ich wirklich so geistesabwesend?

"Eine Meningitis ist eine Entzündung der Hirnhaut. In diesem Fall wurde diese durch Bakterien verursacht. Wir haben bereits begonnen ihrer Freundin Antibiotika zu geben, aber wir müssen sehen wie sich das entwickelt. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sei, die Entwicklung der Krankheit ist bereits sehr weit fortgeschritten, sodass wir auf ein Wunder hoffen müssen, wenn sie ohne bleibende Schäden aus dem Krankenhaus entlassen werden soll. Im Moment macht uns vor allem die damit verbundene Blutvergiftung zusätzlich Sorgen. Daraus wird sich vermutlich das Waterhouse-Friderichsen-Syndrom entwickeln, dass zu inneren Blutungen an den Organen, vor allem den Nebennieren führen könnte"

Ich versuchte alles so gut es ging in mich aufzunehmen, aber der Schock saß noch viel zu tief in meinen Gliedern. Er hatte gesagt, dass sie höchstwahrscheinlich bleibende Schäden davontragen würde. 

"Aus Gründen der Vorsicht, sollten wir Sie ebenfalls mit Antibiotika in Tablettenform austatten, damit sich das Krankheitsbild bei Ihnen sich nicht auch noch entwickelt. Außerdem wäre diese Maßnahme für alle wichtig, die in den letzten Tagen im engen Kontakt zu ihr standen.  Zudem mussten wir sie auf die Intensivstation verlegen, damit wir sie bestmöglich behandeln können. Haben Sie inzwischen die Eltern erreicht?"

"Nein, ich habe immer und immer wieder angerufen, aber sie gehen nicht ran", brachte ich geradeso aus mir heraus, bevor ich völlig in mir zusammenbrach.

"Warten Sie kurz bitte hier. Möchten Sie etwas zu trinken?", erkundigte er sich, stand auf und verließ nach meinem kraftlosen kopfschütteln den Raum. Ich versuchte nun nicht mehr gegen meine Tränen gegenan zu kämpfen. Ich hatte keine Kraft mehr um diesen sinnlosen und aussichtslosen Kampf weiter zu führen, auch wenn ich mich wie ein Häufchen Elend fühlte. Ich konnte es einfach nicht fassen und das machte es noch viel schlimmer. Ich zerrte so sehr von dem letzten Stück Hoffnung, das ich hatte. Und ich musste jetzt eigentlich stark sein für Nelly und ihr bei ihrem Kampf beistehen.

"Hier bitte", meinte eine Krankenschwester und reichte mir eine box Taschentücher. 

"Es tut mir wirklich leid, aber Ihre Freundin ist stark. Sie wird es sicher schaffen", sprach sie mir Mut zu, drückte mir die Tabletten in die Hand und verschwand dann wieder aus dem Zimmer.

"So, Sie nehmen jetzt bitte schon gleich eine Tablette ein und in acht Stunden erneut. Und das machen Sie bitte so lange bis die Packung leer ist. In Ordnung?"

Ich nickte stumm zustimmend. Ich hatte keine Worte mehr.

"Verlieren Sie nicht den Mut. Es ist noch nichts verloren!", sagte er aufmunternd und begleitete mich dann wieder zurück zu Liam und Louis, die mich wieder sofort in eine Umarmung zogen. Seine Worte hallten mir noch immer im Kopf nach.

Es ist noch nichts verloren!



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