Kapitel 22

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Ich war nun schon einige Zeit langsam die Straße entlang geschlendert und hatte dabei meine Arme fest um meinen Körper umschlungen. Die Kälte, die hier nachts anscheinend herrschte, hatte ich offensichtlich unterschätzt. Aber sobald wollte ich noch nicht zu ihnen zurückkehren. Noch immer war ich mir nicht schlüssig was ich tun könnte um Harry davon zu überzeugen, dass ich kein hilfloses, kleines Mädchen war, dem er offensichtlich noch immer hinterherjagte, sondern hinter meiner Persönlichkeit eine bestimmte, taffe, junge Frau steckte, die ganz gut auf sich allein aufpassen konnte.

Vielleicht würde es ihm reichen, wenn ich den Weg zur Wohnung wiederfinden würde, den wir bereits zweimal gefahren waren. Das eine mal hatte ich dabei zwar geschlafen und das andere mal war es noch nicht annähernd so dunkel gewesen wie es jetzt war, aber einen Versuch wollte ich dennoch starten. Das konnte ja nicht so schwer sein. Zumindest wenn ich zumindest den Straßennamen oder den Namen des Viertels gewusst hätte, aber ich würde es sicher auch so schaffen. Ich müsste es schaffen, schon allein um es ihm zu beweisen.

Ich hatte bereits eine relative weite Strecke zurückgelegt, aber hatte versucht mit im Hinterkopf zu merken wann ich wohin abgebogen war. Obwohl ich wirklich zu Harrys Wohnung finden wollte, so musste ich zumindest einen Notfallplan haben. Ich könnte Grace, die mir hier bei meiner Ankunft in London beim Finden von einem Ort helfen konnte, doch bitten mir wieder unter die Arme zu greifen. Erleichtert über meine Idee wollte ich gerade mein Handy aus meiner Jackentasche ziehen, in dem ihre Nummer eingespeichert war, als es mich wie ein Schlag traf.

Mein Handy, ich hatte es nachdem ich meiner Mutter geschrieben hatte, in meinen Koffer zurückgelegt. Wie konnte ich es einfach in der Wohnung vergessen haben? Ich war so sehr mit den Gedanken bei Harrys Freunden gewesen, dass ich es gar nicht bemerkt hatte, das ich es nicht eingesteckt hatte. Verzweifelt atmete ich tief aus. 

Wem versuchst du hier überhaupt etwas zu beweisen? Du schaffst es doch sowieso niemals etwas allein zu wuppen und vergisst ganz einfach die entscheidenden Sachen. Wieso sollte es auch anders sein? Du bist immer noch du. Eine aus dem Affekt getroffene Entscheidung wird daran nichts ändern. Du solltest nicht damit rechnen, dass du jemals in deinem Leben etwas gebacken bekommst, schlugen meine eigenen Gedanken auf mein sinkendes Selbstwertgefühl und Hoffnung ein. 

Die Straßenlichter verloren ihren Glanz, da ich versuchte die aufkommenden Tränen zu unterdrücken, was noch nicht ganz von Erfolg gekrönt war. Und jetzt fängst du auch noch an zu heulen. Tiefer konntest du ja wohl auch nicht sinken, sprach meine innere Stimme wieder zu mir und ich wünschte mir einfach nur diese Reise nie gemacht zu haben. Nie mich dazu überredet haben zu lassen in den Club zu gehen. Dann wären Harry und ich uns nie begegnet und ich hätte mir so vieles erspart.

Aber ich hätte auch einiges an schönen Dingen verpasst. Die Zeit mit ihm war immer so schön und ich genoss es mich in seiner Gegenwart aufzuhalten. Und auch wenn ich das mehr genoss als er, so waren wir doch eigentlich ein gutes Team. Ich verhalf ihm so gut es ging dazu die richtigen Entscheidungen zu treffen und er, er hatte das auch versucht. Er hatte versucht mir zu helfen. Irgendwie überkam mich nun noch ein Gefühl vom Scham. Wie hatte ich mich bloß so darüber aufregen können, dass er mir helfen wollte? Und selbst wenn mir seine Hilfe nicht recht war, hätte ich ihn nicht gleich so anmaulen müssen.

Sofort blieb ich stehen, drehte mich um und wollte auf dem selben Weg wieder zurücklaufen. Zu meinem Glück hatte ich mir gemerkt wann ich wohin abgebogen war und somit konnte ich relativ gut wenn auch langsam wieder zurückfinden, obwohl die Dunkelheit nun die ganze Stadt fest im Griff hatte. Aber bevor ich dort ankam musste ich mir etwas überlegen. Wie sollte ich ihm gegenübertreten und was könnte ich zu ihm sagen, dass meine Position, mein Verständnis für seine Position und eine Entschuldigung enthielt? Zum Glück musste ich noch ein ganzes Stück zurück laufen und hatte genug Zeit mir auch darüber noch den Kopf zu zerbrechen.


Harrys Sicht:

Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und versuchte die Situation von eben zu verstehen. Wieso verstand sie denn nicht, dass ich ihr bloß helfen wollte, so wie sie auch immer mir half? Wie konnte sie nur denken, dass ich sie als ein schutzloses, kleines Mädchen sah, dass auf meine Hilfe angewiesen war um überleben zu können?

"Harry?", fragte Dayna und sah mich mit Sorgenfalten im Gesicht an.

Ich hob meinen Kopf und blickte sie verwirrt an. Die beiden saßen mir gegenüber und sahen besorgt aus. Offensichtlich wussten sie nicht so recht, was sie tun konnten um zu helfen.

"Ist alles in Ordnung?", erkundigte sich jetzt Josh, stand auf und setzte sich neben mich. Ich wusste nicht  so recht was ich darauf antworten sollte. Irgendwie fühlte ich mich verletzt, dass Nelly so schlecht über mich dachte. Und das alles bloß, weil ich versucht hatte endlich etwas richtig zu machen und mich für meine Freunde bedingungslos einzusetzen.

"Ich weiß nicht", antwortete ich trocken und sah die beiden an.

"Können wir dir irgendwie helfen?", erkundigte sich nun Josh und ich überlegte. Ich musste mit Nelly sprechen. Ich musste ihr erklären, dass nichts von dem was sie dachte stimmte und dass ich einfach nur versuchte die richtigen Entscheidungen zu treffen um ihr zu helfen. Ihr meine Unterstützung zu zeigen, war wohl in einer falschen, von ihr unerwünschten Art passiert, sodass in ihr Erinnerungen hochgeholt wurden, die sie bereits tief in sich begraben hatte.

"Ich muss zu Nelly", kam es plötzlich aus meinem Mund heraus und sofort stand ich auf und lief auf die Tür zu.

"Wir kommen mit. Wir helfen dir sie zu finden", erklärte Dayna, während die beiden mir in den Flur folgten.

"Danke ihr beiden, aber das müssen wir beide allein klären. Ich melde mich morgen bei euch, ok?", erkundigte ich mich als ich bereits die Tür öffnete. 

Sie nickten bloß und wünschten mir viel Glück. Danach trat ich in die Nacht hinaus, die wesentlich kälter war, als die Temperaturen am Tag hätten vermuten lassen. Und es war unheimlich still. Innerlich hoffte ich, dass Nelly am Auto wartete oder mir gleich auf der Straße entgegen kam, aber als ich sie dort nicht fand, stiegen Sorgen in mir hoch.

Hoffentlich hatte sie in ihrer Wut nicht überstürzt gehandelt und war auf eigene Faust nach Hause gelaufen und hatte womöglich dabei noch den Weg vergessen oder war in der Dunkelheit auf Menschen gestoßen, denen sie am besten nicht allein begegnen sollte.

 Sofort holte ich mein Handy heraus und rief sie an. Nach wiederholtem monotonen Piepen erklang die Mailbox und machte mich damit noch besorgter als ich ohnehin schon war. Ein Anruf, der mir ihren Standort und ihren Gemüts- und Gesundheitszustand verraten hätte, hätte mir die Last genommen, aber das ich sie nicht erreichen konnte, ließ diese eher noch weiter wachsen. Ich versuchte es noch einmal, wobei ich gleichzeitig die Schlüssel von meinem Auto herauskramte. Ein weiterer Versuch, der das selbe Ergebnis hatte. Ich konnte sie nicht erreichen.

Mein Herz raste vor Sorge, als ich in mein Auto hechtete und die Strecke zur Wohnung abfuhr. Mir war niemand aufgefallen, der Nelly auch nur im geringsten ähnlich sah. Als ich schließlich an meiner Wohnung ankam, sprintete ich aus meinem Auto heraus, rannte die Treppen hoch und schloss sofort mit leicht zitternden Händen die Wohnungstür auf.

"Nelly? Nelly, bist du hier?", rief ich und rannte so schnell ich konnte in jedes Zimmer. Alles war dunkel, niemand antwortete und ich konnte auch bei mehrfachen checken niemanden entdecken. Sie hatte es nicht nach Hause geschafft. 

Auch auf dem Rückweg, den ich noch langsamer und noch genauer nach ihr absuchte, sogar einige Passanten fragte, ob sie sie gesehen hatten, fand ich kein Anzeichen von ihr. Niemand konnte sich an ein Mädchen wie sie erinnern und auch sonst hatte ich sie nicht nach Hause laufen sehen können. Einige weitere vergebliche Anrufe später, kam ich wieder bei dem Haus von Josh und Dayna an.

Du bist so ein Idiot. Wieso bist du ihr nicht sofort nachgelaufen und hast mit ihr gesprochen? Wieso hast du sie gehen lassen? Wer weiß was ihr jetzt passiert ist, weil du nicht wie versprochen auf sie aufgepasst hast. Sie kennt sich hier doch gar nicht aus und da kann sie ganz leicht in die falschen helfenden Hände geraten. Meine Gedanken waren nicht unbedingt das, was ich nun brauchte und dennoch versuchte ich weiter fieberhaft sie zu finden. Wenn ich nur wüsste, wo sie steckte.

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