Kapitel 47

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Ich konnte im Geiste die anderen wahrnehmen, die alle bei mir waren. Meine Eltern waren gekommen und hatten auch einige meiner Freunde aus Deutschland mitgebracht. Sie wechselten sich ab. Mal waren meine Eltern beide bei mir, dann kam Harry und mein Vater ging, oder eine andere Kombination, die zwei Personen im Raum zuließen. Ich nahm es alles wahr, aber konnte nichts gegen meine Teilnahmslosigkeit tun. Ich wollte so gerne einfach meine Augen aufschlagen, sie angucken und begrüßen. Vor allem wollte ich ihnen die Sorge um mich nehmen. 

Mein Körper schien unter meiner Erkrankung zu zerbrechen und die Kräfte, die ich noch hatte, hielten bloß mein Bewusstsein aufrecht. Das war das einzige, aber in meiner Situation musste ich schließlich alles nehmen, was ich kriegen sollte.

Nun begann sie zu reden und zu schluchzen. Meine Mutter würde bestimmt wieder mit ihren Tränen kämpfen und auf stark machen, damit man ihre innere Aufgewühltheit und ihren Schmerz nicht so sichtbar war. Harry hatte sanft meine Hand genommen. Ich konnte es wahrnehmen. Ganz weit weg, aber ich konnte es und ich wollte so sehr seine Hand drücken, um ihm zu zeigen, dass ich ihm beistand und er nicht allein durch diese Zeit hindurchmusste. Aber die erdrückenden Schmerzen, die allgegenwärtig kaum ertragbar waren, brachten mich sofort von irgendwelche etwaigen Gedanken ab.

Plötzlich nahm ich wahr wie jemand mein Auge aufriss und mit einem hellen Licht hineinleuchtete. Es blendete mich nicht einmal mehr, was mir komisch vorkam. War ich etwa schon fast tot? Ich entfernte mich immer weiter von meinem Körper und spürte wie ich meine Seele von ihm löste. Wir waren nicht mehr eins, aber daher konnte ich nun alles wieder klarer wahrnehmen. 

Meine Mutter und Harry standen neben meinem Bett und starrten auf meinen leblosen Körper.  Ich stellte mich hinter sie und fragte mich: Würdet ihr mich vermissen, wenn ich gehe?

Mein Blick wanderte auf ihre versteinerten Gesichter. Sie würden sicherlich weinen, aber sie würden darüber hinwegkommen. Harry hatte seine Jungs wieder. Zumindest dieses Ziel schien ich erreicht zu haben. Und meine Mutter hatte noch so viel in ihrem Leben vor sich. Ich wusste, dass ich aus der ganzen Situation bloß mit gravierenden Hirnschäden kommen würde, was ich ihr und allen anderen um mich herum nicht antuen wollte. Ich wollte keine Belastung sein und ich wollte schon gar nicht mein Leben lang mit diesen Schmerzen leben. Es war nicht selbstlos, aber das konnte ich im Moment auch nicht. Ich konnte und wollte ihnen und mir das nicht antuen.

Ich bewegte mich weiter vorwärts und traf auf meine Freunde, die zusammen mit meinem Vater im Wartebereich saßen. Sie sahen verweint aus und ich fragte mich auch dieses mal: Würdet ihr mich vermissen, wenn ich gehe?

Sie erinnerten mich an all die schönen Zeiten, die wir  zusammen verbracht hatten. Die Feste, die gefeiert wurden, die Kämpfe, die ausgetragen wurden und die Tränen, die geweint werden mussten. Ich wollte ihnen kein Leid bescheren, aber was würde das größere Leid darstellen. Eine Freundin/Tochter/Enkelin/feste Freundin, die den ganzen Tag völlig weggetreten im Bett lieg und in ihrem Kopf und Körper gefangen ist, oder den vergehenden Schmerz?

Meine Reise durchs Krankenhaus brachte mich zu Niall, Louis und Liam, die einige Meter weiter zusammenstanden und niedergeschlagen auf den Boden starrten. Von der Lebensfreude, die sie noch vor wenigen Sunden verbreitet hatten, war nicht mehr viel zu sehen. Und auch wenn ich sie noch nicht so gut kannte, waren sie mir sehr ans Herz gewachsen. Hoffentlich würden Harry beistehen, wie auch immer all das hier ausgehen würde. Ich fragte mich: Würdet ihr mich vermissen, wenn ich gehe?

Langsam begab ich mich wieder zurück in mein Zimmer und betrachtete ein letztes mal meine Mutter und meinen festen Freund Harry. Ich wollte ich könnte ihm einen Abschiedskuss geben, aber mein Körper verharrte noch immer unverändert im Bett. 

"Harry, Mum, ich liebe euch und alle, die da draußen auf mich warten, mehr als alles andere in der Welt und ich bin mir sicher, dass ihr mich auch liebt. Aber ich kann das euch und mir nicht antun. Ich kann nicht als ausgelaugter Geist weiterleben. Denken macht doch soviel Spaß. Ich kann mir keine Welt ohne Denken, DIskutieren, kreativen Arbeiten und eigenen koordinierten Bewegungen vorstellen. Ich kann es einfach nicht und es tut mir leid, aber ihr werdet Trost finden, wenn ihr ihn braucht" 

Ich betrachtete die beiden das letzte mal, lächelte und vergoss eine letzte Träne, bevor ich ins helle Licht ging und zu dem monotonen Piepen des Monitors in ihm versank.


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Vielen Dank an alle, die bis hierhin gelesen haben. Ich bin so dankbar dafür, dass ihr euch an meiner kleinen Aktion hier beteiligt habt. Ich könnte mir das alles gar nicht ohne euch vorstellen, also vielen Dank für eure Unterstützung. Vielleicht hört man ja nochmal voneinander. Ich habe bereits eine weitere Geschichte in Planung, die mehr oder weniger an diese anschließt, also wenn ihr gerne mehr erfahren möchtet oder euch einfach mein Schreibstil gefällt, dann würde ich mich freuen, wenn ihr nochmal vorbeischaut.

In diesem Zuge möchte ich auch nochmal auf etwas hinweisen, was mir persönlich sehr am Herzen liegt. Meningitis ist als Krankheit viel zu unterrepräsentiert und verdient, vor allem für die dramatischen Folgen, die innerhalb weniger Stunden zum Tod führen können, eine wesentlich größere Aufmerksamkeit. 

Ich bitte euch diesen Aufklärungsspot kurz dazu anzusehen. Ja, viele kleine Kinder sind besonders davon betroffen, aber es kann praktisch jeden treffen und deshalb ist die rechtzeitige Erkennung so wichtig. Wenn Nelly auf ihren Körper gehört hätte, dann hätte alles anders ausgehen können. Also bitte hört es euch kurz an und vor allem hört auf euren Körper. Es ist nichts falsch daran zu sagen, dass man ein ungutes Gefühl hat und das abklären lassen möchte. Besser einmal mehr als einmal zu wenig. Bleibt gesund und munter und achtet auf euch!

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