Kapitel 36

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Sollte ich mitspielen und ihm den Gefallen tun, oder war mir die Wahrheit und somit auch irgendwo mein Selbstwertgefühl so wichtig, dass ich ohne weitere Umschweife direkt die Situation, die zwischen mir und Harry herrschte, aufklären wollte. Keine falschen Hoffnungen, die ich längst begraben haben sollte und die jedes mal bei seinem starken Augenkontakt aufflammten, durfte ich mehr zulassen.

"Klar doch, ihr entschuldigt uns für einen Moment? Wir werden auch nicht zu laut sein und damit euren Soundcheck stören", kam es plötzlich aus mir heraus, sodass ich erschrocken die Luft einsog. Meine Stimme hatte vor Anspannung und vermutlich auch Aufregung so stark und überzeugt geklungen, sodass ich für einen Moment zweifelte, dass wirklich ich diese Worte von mir gegeben hatte und nicht irgendein anderes Mädchen, das jeden Moment hinter uns auftauchen würde und sich bei Harry unterm Arm einhaken würde. Die Vorstellung war so erschreckend und traurig, dass ich Halt bei Harry neben mir suchte, der erstaunlicherweise gleich meine Hand nahm und meine Finger mit seinen Fingern verkreuzte.

Ein lautes Lachen schlug uns entgegen und schaffte es mir noch mehr Verunsicherung beizubringen. Obwohl ich meine Worte überzeugend, fast schon übertrieben mit meiner Mimik dazu fand, so hatten sie bei den anderen drei Jungs, die uns noch immer gegenüber standen, offensichtlich kein Stück die erhoffte Wirkung erzeugt.

"Na dann mal los, auf das sich die Balken biegen", prustete Louis und verfiel sofort wieder in ein ausfallendes Gelächter. 

Verwirrt sah ich zu Harry, der versuchte beruhigend mit seinem Daumen über meinen Handrücken zu streichen. Und diese Berührung brachte mich dazu, mich augenblicklich von ihm zu lösen und die Flucht zu ergreifen. Vor mir selbst und meinen Gefühlen, deren Kontrollverlust ich mir endlich bewusst machte.

Verwirrt und leicht verzweifelt versuchte ich mich in dem Gängelabyrinth zurecht zu finden um einen Weg an die Oberfläche und die frische Luft zu finden. Ich müsste bloß einige Male teif einatmen und versuchen die Scham, die mich bereits fest im Griff hatte, zu unterdrücken. Danach würde alles wieder gut sein und ich würde meine plötzliche Flucht mit einer möglichst glaubhaften Ausrede entschtuldigen. Aber daran konnte ich im Moment noch nicht denken. Zuerst musste ich den Kopf frei bekommen.

Ich erkannte ein Schild, das zum Ausgang hinwies und diesem folgte ich ohne weiter nachzudenken. Die Hitze draußen traf mich wie ein Schlag und verfehlte damit zum Teil die erwünschte Hoffnung. Ich hatte es zwar geschafft Platz zwischen mich und die fürchterliche Situation zu bekommen, aber einen klaren Kopf konnte ich trotzdem nicht wirklich fassen. Es war eher eine wahrhaftige Flucht ohne Plan und zweiten Boden.

"Ist alles gut bei dir?", hörte ich plötzlich Harry von hinten fragen und drehte mich augenblicklich um. Natürlich war nicht alles gut bei mir, aber dieses ganze hin und her und das völlige Gefühlschaos in mir drin hatte mich zu dieser Kurzschlussreaktion gebracht. Aber dieses Thema immer und immer wieder neu aufzukauen hatte selbst mich mittlerweile fertiggemacht und auch den Spaß an so mancher Situation genommen, weil ich viel zu verkopft und konzentriert in seiner Nähe war. 

"Nein, aber ich habe es so satt, dass es so ist. Ich würde es gerne ändern, aber ich kann es nicht", erklärte ich zumindest das halbwegs Offensichtliche.

"Und was ist das? Kann ich dir dabei helfen?"

Seine hilfsbereite und besorgte Art killte mich innerlich schon wieder, weil sie mich immer wieder härter in dieses Loch voller Gefühle für Harry zurückfallen ließ. Jedes Mal wenn ich gedacht hatte, dass ich es herausgeschafft hatte, stieß Harry mich bloß durch seine Art wieder kräftiger zurück. Ich hatte keine Kraft mehr dafür, gegenan zu kämpfen, aber ebensowenig, ihn nicht in meiner Nähe haben zu können. Es war doch verflixt. 

"Sprich bitte mit mir. Ich kann dir sicherlich helfen", versuchte er es erneut und trat dabei weiter in mein Sichtfeld hinein.

"Nein, Harry. Nein, du bist der letzte, der mir helfen kann", antwortete ich verzweifelt, aber mit einer Überzeugung in meiner Stimme, dass ich es beinahe selbst nicht glauben konnte.

"Geht es um den Kuss?", fragte er nun und drehte mich zu sich, sodass ich seinen Blicken nicht weiter ausweichen konnte. Ich atmete schnell und versuchte schnell an irgendetwas zu denken, dass ihn glaubwürdig abwimmeln würde. Eine erneute knallharte Zurückweisung konnte ich sicherlich nicht so gut ertragen. Aber vielleicht war es auch gerade das, was ich brauchte, um mir selbst klar zu machen, dass Harry einfach nicht an mir interessiert war. Zumindest nicht so wie ich es war.

"Nelly, ich wollte dich damit keinesfalls verunsichern. Es ist einfach so passiert und ich weiß selbst, dass das nicht so..."

Ich unterbrach ihn, weil ich ihn zu mir heranzog und ihn erneut küsste. Ich verstand nicht wieso ich das gerade tat und sobald mir das bewusst wurde, zog ich mich aus dem Moment zurück und drehte mich beschämt um. Wieso hatte ich das nur getan? Ich hatte alles doch nur viel schlimmer gemacht!


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