Kapitel 1✨

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Das Gezwitscher der Vögel und das Rauschen des Windes im hohen Blätterdach über mir hatten eine beruhigende Wirkung auf mich und ich atmete die klare Luft tief ein.

Ich lief durch das raschelnde Laub und Jiggles, unser Yorkshire-Terrier bellte fröhlich.

An einem großen Baum hockte ich mich zu Jiggles, streichelte ihm über den Kopf und ließ ihn von der Leine, damit er sich ein bisschen austoben konnte, was er auch sofort tat. Er raste wie ein Verrückter um mich herum, während seine Ohren im Wind flatterten.

Ich lachte leise in mich hinein und lehnte mich gegen den Baum, während ich Jiggles weiter zusah. Wie konnte in einem so kleinen Lebewesen nur so viel Energie stecken?

Der Wind frischte auf und trug sein fröhliches Bellen zu mir hinüber, während ich ein braun verfärbtes Blatt vom Boden aufhob und es gedankenverloren betrachtete.

Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz im Rücken und zuckte dadurch zusammen. Das Blatt segelte schwerfällig zurück auf den moosbewachsenen Waldboden. Verwirrt bewegte ich meine Wirbelsäule ein wenig, doch der Schmerz war vorüber. Ich runzelte die Stirn und wandte ich mich wieder dem kleinen Hund zu, als mich erneut dieser Schmerz durchfuhr. Verwundert zog ich meine Augenbrauen zusammen.

Was war denn nur los?

Diesmal hatte der schmerzende Druck nicht aufgehört, sondern intensivierte sich immer weiter und lokalisierte sich schließlich auf meine beiden Schulterblätter. Das war der Moment, in dem ich realisierte, was vorging.

Ich hatte diesen Moment erwartet, hatte ihm regelrecht entgegengefiebert.

Doch wieso ausgerechnet jetzt? Ich war alleine im Wald.

So schnell ich konnte rief ich nach Jiggles, leinte ihn an und rannte mit ihm durch den Wald. Laub stob unter meinen schnellen Schritten auf und wirbelte in unkoordinierten Kreisen erst durch die Luft, dann sank es wieder zu Boden. Immer weiter rannte ich durch den Wald, doch irgendwann kam es mir so vor, als hätte ich alles hier schon einmal gesehen. Es war, als hätten die Baumreihen kein Ende und ich liefe nur im Kreis. Der Schmerz machte es mir beinahe unmöglich, weiterzulaufen, doch ich biss die Zähne zusammen und kämpfte mich weiter durch den Wald. Tief hängende Äste und Zweige schlugen mit ins Gesicht und zerkratzten mir Wangen und Arme bei den Versuch, sie während dem Laufen zur Seite zu schieben. Meine Haut brannte und mein Atem hörte sich rasselnd und schwer an.

Da, endlich, lichteten sich die Bäume ein wenig.

Mit letzter Kraft erreichte ich den Waldrand und stolperte mehr, als dass ich lief, den gepflasterten Weg entlang bis zu unserem alten Haus. Jiggles verhinderte wohl als einziger Faktor noch, dass ich einfach stehen blieb, denn er zog mit seinem gesamten Gewicht an der Leine, auch wenn es nicht viel war. Aber trotzdem spornte er mich ein wenig an. Vor der Haustür bellte er laut, denn mir fehlte die nötige Kraft, um zu klingeln. Kluges Tier.

Mittlerweile waren die Schmerzen kaum mehr auszuhalten und ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut loszuschreien.

Unter meinen zitternden Armen wurde die Tür aufgerissen und ich fiel meiner Schwester Lany regelrecht vor die Füße.

„Oh mein Gott! Hazel, was ist passiert?", rief sie sogleich erschrocken, doch ich schaffte es nicht so recht, ihr zu antworten. „Ich glaube...es...passiert...", brachte ich mühsam heraus. Lany reagierte sofort. Sie packte mich an den Armen und unter den Kniekehlen und trug mich irgendwohin, weiter ins Haus. Mittlerweile hatte ich komplett die Orientierung verloren.

Wenig später lag ich auf einer weichen Oberfläche und blickte in das Gesicht meiner Mutter, die mich aus ihren grauen Augen besorgt anblickte.

„Was können wir tun?", fragte Lany verzweifelt. Mom sah sie ernst an. „Wir können nichts tun. Das weißt du. Ihre erste Verwandlung muss sie allein durchstehen.", antwortete sie dann.

Ich dämmerte gerade halb weg, als meine Schulterblätter vor Schmerz beinahe explodierten. Ich schrie auf und wälzte mich unkontrolliert hin und her, doch nichts änderte sich. Ich hatte das Gefühl, in einem Wirbelsturm aus Schmerz gefangen zu sein, aus dem es kein Entkommen gab, doch da bemerkte ich noch etwas anderes als den unbändigen Schmerz. Etwas, das ihn ein wenig betäubte. Es war wie eine Art Kribbeln, das sich über meinen gesamten Rücken ausbreitete und sich dann an meinen Schulterblättern sammelte, wo es den Schmerz schließlich komplett überstrahlte.

Grelles Licht tauchte die Welt für einen Moment in gleißendes Weiß und blendete mich, sodass ich die Augen zukniff. Doch schon bald zog sich das Licht wieder zurück.

Allmählich verebbte auch das wohltuende Kribbeln und ich lag reglos und verschwitzt da. Einige Sekunden lang war mir etwas schwindelig, doch dann legte es sich wieder und ich setzte mich auf, wobei mich ein weißes Federkleid umhüllte, welches seinen Ursprung auf meinem Rücken hatte. Ich schaute über meine Schulter und da sah ich sie. Riesengroße, weiße Schwingen aus seidigen Federn. Ich streckte meine Hand aus und berührte ganz leicht eine Feder. Sie war erstaunlich weich. Lächelnd stand ich auf und schwankte kurz. Ich war noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, doch schließlich fing ich mich wieder und lief zu dem großen Wandspiegel in Moms Zimmer, wo ich meine Flügel bestaunte. Das Lächeln auf meinem Gesicht wollte gar nicht mehr verschwinden und das zarte, fröhliche Gefühl in meinem Bauch entwickelte sich langsam aber sicher zu purer Freude.

In diesem Moment kristallisierte sich eine Erkenntnis hinter all der Aufregung, Freude und Ungläubigkeit heraus.

Es war endlich so weit. Ich hatte mich verwandelt. Und das bedeutete, dass ich von nun an ein Schutzengel sein würde.

Ich betrachtete mich im Spiegel. Vor mir stand ein Mädchen mit braunen Locken und grünen Augen, die mir fröhlich funkelnd entgegenblickten. Ihren Körper umgab ein leichter Schimmer, so, als würde sie das Sonnenlicht dezent zurückwerfen. Weiße, große Flügel ragten hinter ihrem Rücken hervor. Trotz all der Freude, die sie ausstrahlte, erkannte man auch die Unsicherheit, die sie fühlte.

Und genau so war es. Ich war unerfahren, hatte mich gerade erst zum ersten Mal verwandelt. Auf einmal erschien mir das alles eine viel zu große Verantwortung. Ein Menschenleben würde allein von mir abhängen. Davon, ob ich meine Sache gut machte oder nicht.

Was, wenn ich versagte? Wenn ich nicht gut genug war oder nicht wusste, was zu tun war? Was, wenn ich gar nicht erst meine Prüfungen am Ende der Ausbildung schaffte?

Mit wurde das ganze Gewicht bewusst, das ich bald tragen würde.

Doch würde ich der Verantwortung letztendlich gewachsen sein?

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