der Anker im Sturm

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Baby, don’t leave your house if it’s raining heavy.
I’m already soaked right through.

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Kia starrte seit einigen Minuten auf die krakelige Schrift ihres Bruders.
Sie konnte nicht atmen, sie konnte nichts wahrnehmen. Es war wie eine Trance, die sie nichts mehr fühlen ließ.
Keinen Schmerz, keine Angst. Sie fühlte sich machtlos. Machtlos gegenüber ihrem eigenen Körper.
Wann hatte sie sich jemals so gefühlt?
Hatte Dinge erfahren, die sie nicht glauben konnte?
Wann hatte sie jemals an Chirons Wahrheiten gezweifelt?
Lügen, Wahrheiten. Waren dies das selbe in Chirons Augen?
Machten sie einen Unterschied, wenn der einzige, der die Wahrheit kannte, nicht mehr hier war um sie zu beweisen?
Machte es einen Unterschied, dass er dieses Geheimnis mit ins Grab nahm?
Es nie die Welt erreichen würde und für ewig mit ihm in diesen kalten, nassen Sarg lag?
War es die Wahrheit, die so sehr schmerzte und ihm den Verstand raubte? Ihn dazu brachte, sein Leben zu beenden?

Erst jetzt, einige Minuten später, realisierte Kia und holte tief Luft. Es war ein Gefühl, das sie glauben ließ sie würde ersticken. Sie atmete hektisch, versuchte verzweifelt nach Luft zu schnappen ehe ihr schmerzliche Tränen über die zierlichen Wangen glitten. So viele Tränen, wie sie noch nie zuvor geweint hatte. Kurz war  sie der Meinung gewesen sie konnte es nicht, sie konnte nicht weinen. Sie fühlte sich so leer, so beschmutzt und benutzt.
Sie wusste nichts mehr von dem Abend, hatte sich nie darüber Gedanken gemacht.
Sie hatte Alkohol getrunken, das war wahr, sie schob die vergessene Nacht einfach auf den Alkohol. Sie schob die Schmerzen, die blauen Flecken auf eine aufregende Nacht.
Sie war bis eben der Meinung gewesen, sie wäre hingefallen und hätte sich dadurch so verletzt. Die Schmerzen im Unterleib hatte sie auf andere Dinge geschoben, hatte nie daran gedacht sich untersuchen zu lassen.
Sie wusste nicht wie sie aus dieser Situation entflohen war, wie sie nach Hause gekommen war. Sie wusste nur, dass sie am nächsten Tag mit diesen höllischen Schmerzen aufwachte, ihren Alkohol-Kater ausschlafen wollte.

Das Notizbuch hatte sie wild durch ihr Zimmer geschmissen, wollte es nicht mehr sehen. Wollte es nicht mehr weiter lesen nach diesen schmerzenden Ereignissen, die dort verewigt waren. Sie wollte nichts mehr davon wissen, sie wollte nicht mehr an ihren Bruder denken und an dessen Tod.
Ihn vergessen, ihm verzeihen dass er sich das Leben genommen hatte und diesem nicht länger nachgehen. Sie wollte schreien, so laut dass es jeder im Umkreis von drei Kilometern hörte.
So laut schreien, bis ihre Stimme verbraucht war.
Denn sie war es, verbraucht. Sie hatte ihre Jungfräulichkeit an einen Vergewaltiger verloren.
Sie war es, das Mädchen in dem seidig-roten Kleid das an diesem Abend ihre Unschuld verlor.
Doch sie fühlte sich nicht mehr wie Pak Kia.

Strampelnd versuchte sie sich aus dieser Hölle zu kämpfen, schlug wild um sich und raufte verzweifelt ihr Haar.
Unsanft zog sie daran, wollte sich das schwarze, lange Haar vom Kopf reißen. Doch ehe sie ihrer Wut weiter nachgehen konnten waren es zwei warme Arme, die sich um sie schlingen. Zwei warme Arme, die ihr Halt gaben und sie dazu brachten kurz still zu halten.
Ihren Tränen freien Lauf ließ, doch ihre Beine keuchend an ihren verletzten Körper zog.
,,Ich weiß.'', ertönte die kratzige, dunkle Stimme. Noch immer hielt dessen Besitzer sie ihm Arm, hatte sich neben sie aufs Bett gesetzt und dachte gar nicht erst daran Kia los zu lassen.
Sie schluchzte, so laut sie konnte denn es war ihr egal ob sie Jemand hörte.
Zum ersten Mal war es es ihr egal.
Die große, männliche Hand fand an Kias Wange, streichelte diese behutsam und vorsichtig als würde das Mädchen jeden Moment drohen in tausend Stücke zu zerspringen.
Er streichelte ihr Haar, drückte ihren Kopf an seine Wange und ließ sie das sein, was sie war.
Ein Mädchen, das gerade ihr schlimmstes Schicksal erfahren hatte.
Er wusste, was sie nun durchmachen musste, er wusste dass sie Jemanden brauchte der ihr beistand und sie beschützte. Ihr das Gefühl gab, in Sicherheit zu sein.
In Sicherheit vor dieser grausamen, kalten Welt.
In Sicherheit vor der Wahrheit.

,,Warum tut es so weh?'',schluchzte sie und er verstand sofort was sie meinte. Er hatte sich dies so oft gefragt. Warum die Wahrheit so weh tat, warum Chirons Wahrheit so weh tat.
,,Weil er es ist.'', antwortete er knapp, atmete zitternd ein und biss sich angestrengt auf die Unterlippe. Er durfte nun nicht nachgeben, er musste auch ihr Anker sein.
Der Anker im Sturm, der Anker der sie am Boden hielt. Genauso wie er es für Chiron tat.

,,Warum hat er es mir nicht gesagt, warum hat-..'' sie schluchzte fest, krallte ihre Nägel in den Stoff seines kuscheligen Pullovers. ,,Warum hat er mich im Glauben gelassen, es wäre alles okay?''
,,Er hatte Angst.'', sagte Yoongi, schloss schmerzerfüllt die Augen ,,er hatte Angst du würdest daran zerbrechen.''
,,Ich tu es nun.'', brachte sie unter Tränen hervor, holte wieder tief Luft.
,,Du schaffst das.'' es war nur ein Flüstern aus seinem Mund, dennoch zierte eine Gänsehaut Kias Körper ,,du wirst es schaffen.''
,,Wie-..'' sie streckte ihren Kopf um ihrem Beschützer in die funkelnden Augen zu sehen ,,Wie soll ich so etwas vergessen?''
,,Momentan weiß ich es nicht, aber ich weiß dass ich dich nicht allein lassen werde. So einen Fehler mache ich nicht zwei Mal.''
Yoongis Stimme klang so entschlossen, doch innerlich ringte er mit sich selbst. Zwang sich dazu stark zu wirken, keine Schwäche zu zeigen und ihr beizustehen.

,,Was ist passiert.. zwischen euch?'', fragte sie urplötzlich, hatte sich etwas von ihrem Heulkrampf beruhigt und ließ sich dennoch von seiner Anwesenheit schützen.
,,Ich habe etwas erfahren, dass mich von dem Boden der Tatsachen gerissen hat.'', fing er an, schluckte schwer. ,,Ich konnte-..''
Der Junge mit den blassblonden Haaren rümpfte die Nase, versuchte seine Tränen zurück zu halten. Er versuchte wahrhaftig, sich von den Erinnerungen nicht einnehmen zu lassen. Es war Kias Schmerz, der seinen verstärkte und somit einer einzelnen Träne ermöglichte Freiheit zu finden.
Augen zusammen pressend biss er sich auf die spröden Lippen, hielt die Jüngere so fest er konnte. ,,Ich wollte es nicht wahr haben, ich-.. Ich wollte dass er bei mir war, doch im selben Moment wünschte ich mir ich hätte ihn nie kennengelernt.''

Einen zitternden Luftzug blies Yoongi aus seinen Lippen, schluckte erneut schwer und schluchzte einmal. ,,Ich war so eingenommen von mir selbst, von meiner eigenen Trauer dass ich völlig ausblendete wie es ihm ging. Er war doch derjenige, dem ich beistehen sollte und als ich das realisierte, war es zu spät.''
,,Das glaube ich nicht, du warst ihm immer ein so guter Freund.''
,,Ich hätte ihn aufhalten sollen, alles tun damit er.. es nicht tut. Doch ich konnte nicht.''

Yoongis Fassade fiel, binnen Sekunden brach er durch die verzweifelte Trauer in sich zusammen, versteckte sein Gesicht in der Halsbeuge der kleineren Koreanerin.
Und sie war da für ihn so wie er es für sie war.

One More Light | BTS √Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt