Vergebung

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,,Ich weiß nicht, ob ich es ihr zeigen sollte.", Jungkook hielt inne, senkte den Kopf ,,Er hat mich damit zurück gelassen, ohne mir zu sagen wie ich sowas machen soll."

,,Er hat uns nicht zurück gelassen.", protestierte Yoongi, sein Blick war ernst und dennoch spürte man den noch immer anhaltenden Schmerz.
Die beiden Jungs wussten nicht, wie es Kia ging, sie wussten nicht, dass sie das Notizbuch zu Ende gelesen hatte. Sie hatte es schon seit Tagen zu Ende gelesen.
,,Er wollte, dass du es zu Ende bringst weil er wusste, dass er nicht konnte."
Jungkooks Rehaugen trafen in die Katzenaugen seines Gegenübers, kurz funkelte Yoongi den Jüngeren an.
,,Und wie soll ich 'es' zu Ende bringen'?", fragte er schnippisch, fast schon als würde der Blonde ihn bitten den Regenbogen zu sich zu holen.
,,Wir werden es der Polizei geben.", sprach Yoongi, noch nie hatte er so gesprochen.
Jungkook wich etwas überrascht zurück, knallte dadurch mit dem Drehstuhl gegen den Schreibtisch.
Der Ältere, der auf Jungkooks Bett saß, zuckte kein bisschen. Und er wusste was dies zu bedeuten hatte.
,,Aber Kia.." ,,Genau deswegen, wegen ihr und wegen Chiron. Sie verdient es Gerechtigkeit zu bekommen, genauso wie ihr Bruder es verdient."
Noch nie, in der Zeit als Yoongi seinen Liebsten kannte hatte er ihn so genannt.
Der Dunkelhaarige zögerte jedoch, wieder überkam ihn dieses Gefühl von Angst. Furcht die sich in seine Knochen bohrte. Er wollte ihr nicht nachgeben, er wollte einmal etwas tun, das anderen weiter half.

,,Ich denke ich weiß, wer ihr..du weißt schon, war.", murmelte er schließlich, den Blick noch fest auf den Boden gerichtet.
,,Was?" ,,Ich hab keinen Moment damit aufgehört nach ihnen zu suchen."
Und es war die Wahrheit, Jungkook sprach nichts als die Wahrheit.
Mit einem Ruck drehte er sich zu seinem Computer um, machte einige Klicks mit der Maus und öffnete Fotos diverser Jugendlicher.
Unter anderem Bilder des Jungen, der Kia ihre Unschuld nahm.

,,Das ist er?", flüsterte Yoongi, einen Arm an der Lehne des Drehstuhles abgelegt. Gebannt starrte er auf die Fotografie, versuchte herauszubekommen, ob er diesen jungen Mann kannte.
Doch auch nach mehreren Sekunden ging ihm kein Licht auf und er seufzte.
,,Hast du auch seinen Namen?", fragte er den Sitzenden, ehe dieser stumm nickte.

Can you not see?
I'm haunted by my shadow.

,,Warum haben wir eigentlich nie sein Grab besucht?",erfüllte die trübe Frage den Raum.
Schweigen, die Stille war unaushaltsam. Besonders für die junge Koreanerin, die mit ihren Eltern am Esstisch saß.
,,Süße.", begann ihre Mutter, blickte ihr leidend ins Gesicht ,,Wir haben es doch besucht."
,,Es befindet sich Meilen weit weg. Ich finde das ziemlich dreist, dass ich so weit fahren muss um meinen Bruder zu besuchen."
,,Sprich nicht so von ihm.", brummte plötzlich ihr Vater, seine dunkle Stimme hallte laut durch die Räume.
,,Sprich nicht von ihm als wäre er noch hier.", fügte er seiner Predigt hinzu. Kias Kopf senkte sich, betrübt starrte sie auf ihre Hände und ließ beide Essstäbchen sinken.
Wieder dachte sie zurück an den letzten Tag in Chirons Leben, an die Gedanken die er hatte und an das Leid, das er so lange in sich trug.
Für sie war er so lange nicht gestorben, bis sie diese Zeilen las. Bis sie an der letzten Seite des Notizbuches angelangte und sie es nicht mehr verleugnen konnte.
Ihr Bruder hatte sich das Leben genommen, das hatten sich schon einige Schüler gedacht als sie Kia im Schulflur sahen.
Das hatten sie sich gedacht, hinter ihrem Rücken.
Die Schwester des Jungen, der sich umgebracht hatte.
Dieser Ruf würde sie auf ewig verfolgen.

,,Ich will hingehen.", murmelte sie kaum hörbar, ihre Eltern musterten sie verwirrt.
Wie konnte sie sich das freiwillig antun?
Seit seiner Beerdigung, bei der er noch nicht einmal ein Grab bekommen hatte, hatten sie diesen Friedhof nicht mehr besucht.
Sie brachten es einfach nicht über's Herz zu wissen, dass er so tief dort begraben lag.
,,Ich denke er wollte eingeäschert werden."
,,Kia!", fauchte plötzlich ihre Mutter, schlug ihre Hände auf den Tisch.
Einige Sekunden vibrierte er stark, ehe er langsam nachließ und Kia ihrer Mutter in die Augen sah. ,,Hör schon auf darüber zu reden."
,,Warum reden wir nicht darüber? Warum darf ich nie über ihn reden? Er ist mein Bruder."
Den Tränen nahe blickte sie zwischen ihren Eltern hin und her. Sie verstand nicht, warum es sie so sehr schmerzte all dies zu hören.
Denn sie selbst dachte den größten Schmerz zu spüren.
,,Warum haben wir ihm nicht Mal diesen Wunsch erfüllt?", kam es aus der jungen Tochter, eine Träne rollte ihr über die roten Wangen. Augenblicklich strich sie sie mit ihrem Ärmel weg, wandte den Blick jedoch nicht ab. ,,Weil wir unseren Sohn nicht gut genug kannten, um seine Wünsche zu kennen.", sprach der Vater nun laut, schickte eine Gänsehaut über den Körper der Anwesenden. ,,Weil wir uns zu wenig dafür interessiert haben, wie's ihm ging. Deswegen, weil wir blind waren."
,,Semin..", versuchte Kias Mum ihren Ehemann zu besänftigten, legte dabei ihre Hand auf seinen zitternden Arm.
Noch nie hatte er seit Chirons Tod darüber gesprochen, nie hatte er so etwas zugegeben. Und auch seine Tochter hätte niemals erwartet, so etwas aus seinem Mund zu hören.
Sie saß einfach nur da, mit geweiteten Augen, den Händen auf ihren Schoß. Sie saß da und es tat ihr leid.
Und noch immer bahnten sich die Tränen ihren Weg über die Wangen der Jugendlichen, ließen sie schwer schlucken.

,,Es tut mir leid, Paps.", murmelte sie kleinlaut, nahezu glich es einem Piepsen und als sie ihren Kopf wieder hob und sah, wie sehr ihr Vater getroffen war, brach es ihr das Herz.
Ruhig stand sie auf, ging um den holzernen Esstisch herum und schlung ihre Arme um den weinenden Herren. Es war eine Umarmung, die so herzlich war wie die eines kleinen Kindes. Eine Umarmung voller Zuneigung, Liebe und Geborgenheit.
Es war die Umarmung, die schon längst nötig war.
Die ihm gut tat, die ihm die Liebe seines einzig verbliebenen Kindes zeigte. Und dies bedeutete so viel.

Vergebung.

One More Light | BTS √Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt