Viel zu viele Songs

80 17 3
                                    

>>

feeling trapped inside myself, never escaping, never living

<<

Chirons zitternde Hände waren schon lange um das Buch geklammert, als würde er es nie mehr her geben wollen.
Es fühlte sich an, als würde sich Yoongis Seele darin befinden, als würde er Yoongis Seele in seinen Händen halten.
Viel zu zerbrechlich um sie wieder aus seinen Händen zu geben, viel zu wertvoll.

Yoongis schwarze Knopfaugen lagen seitdem auf dem Gesicht des Tätowierten, der sich auf die Unterlippe biss.
Er strengte sich an, er wollte keine Schwäche zeigen. Es war ihm wichtig vor Yoongi stark zu sein, weil Yoongi stark war.
Weil er immer stark war.

,,Alles okay?'', flüsterte Yoongi, beinahe als hätte er Angst den Jüngeren aus dieser Trance zu erwecken.
,,Ich hätte es dir nicht zeigen sollen, oder?'', fragte er gleich danach, bereute seine Tat etwas.
Chiron war der Erste, der es zu Gesicht bekam. Der nun wusste, dass es existierte.
Dass Yoongi während seiner Depression Texte schrieb, dass er seine Angst, seinen Schmerz in Worte umwandelte und es in dieses kleine, unscheinbare Buch schrieb.
Texte, die seine Gedanken widerspiegelten, die zeigten womit er zu kämpfen hatte.

,,Ich hab über alles geschrieben, alles was in meinem Kopf war.'', erzählte Yoongi mit leiser Stimme, Chirons Blick lag noch auf den vollbeschriebenen Seiten.
,,Es war Fluch und Segen zugleich. Ich hab geschrieben, jeden Tag, alles was mich bedrückte oder nicht bedrückte. In Form von Songs, viel zu vielen Songs.''

Ein sanftes Schmunzeln schlich sich auf Chirons Lippen, er blätterte weiter, las sich einige Zeilen durch und spürte immer mehr wie sich seine Kehle zuschnürte.
All die wohl gewählten Worte, all die Metaphern, es schmerzte Yoongis negative Gedanken zu lesen.
Andererseits tat es Chiron auch gut, denn er wusste dass es Yoongis Heilmittel war. Yoongi hatte länger nicht mehr darin geschrieben, was bedeuten musste dass es ihm besser ging.

Ein kurzer Blick fiel auf Yoongis Arme, die leichenblassen Arme eines Jungen der sich in seiner Haut nie wohl fühlte.
Yoongi bemerkte den betrübten Blick des Schwarzhaarigen, nahm eine von Chirons Händen und legte sie auf seinen Arm.
Die Narben fühlten sich eigenartig an unter Chirons Fingerkuppen, ließen den 20-Jährigen tief einatmen. Sie fühlten sich rau an, im ersten Moment wie ein unsauber gehacktes Holz. Die Schnitte waren weiß, heller als die Haut darunter.
Sie waren verheilt, keine davon war frisch, alle waren länger her.

,,Sie sind verheilt, es gibt nichts was mir wehtun könnte.'', sprach Yoongi in einer so starken, beinahe unheimlichen Art die Chiron einen Schauer über den Rücken schickte. Chiron nickte zögernd, behielt seine Hand auf Yoongis milchig-weißen Haut, die sich zwar wie zerbrochenes Porzellan anfühlte, dennoch eine gewisse Stärke ausstrahlte.
Er bewunderte ihn.

,,Ich würde es dir gerne schenken.'', sprach er leise, fing Chirons Blick dabei ein ,,Aber ich hab echt Schiss, dass ich's irgendwann wieder brauche.''
,,Behalt' es. Es ist dir wichtig, zu wichtig um es einfach her zu geben.'', sprach der Jüngere, schluckte fest und versuchte dem Blick seines Gegenübers stand zu halten.

,,Ich schreibe auch.'', gab er nach langer Überlegung zu, Yoongis Blick war überrascht, dennoch wissend.
,,Nicht gut und eher nur random Sätze.'', lachte er heiser, etwas beschämt.
Das liebevolle Lächeln auf Yoongis Lippen war herzerwärmend.

,,Ich..'',Chiron suchte sich einen anderen Ort auf den er Starren konnte, ohne ständig Yoongis Gesicht zu erforschen. Er mochte Yoongis Gesicht, dennoch fiel es ihm schwer ihn anzusehen. ,,Ich schätze ich wollte es einfach ausprobieren. Ich wollte es so sehr ausprobieren, zu schreiben und so. Songs zu kreieren und irgendwie was Neues zu schaffen.''
,,Du kannst was Neues schaffen, immer.'', brummte Yoongi ,,du musst nur über deinen Schatten springen.''

,,Wie springt man denn über seinen Schatten?'', lachte Chiron, kratzte sich peinlich berührt am Hinterkopf.
Auch sein Kumpel lachte, bemühte sich leise zu sein da die restlichen Bewohner dieses Hauses schliefen.
,,Dich fallen lassen, es zu lassen dich von etwas zu inspirieren. Meine Inspiration war eben mein eigener Kopf.''
Chiron presste seine Lippen aufeinander, so gern wollte er Yoongi sein Geschriebenes zeigen.
Doch er war nicht bereit dazu.

~Vielleicht würde ich irgendwann bereit dazu sein~

Kia verließ Yoongis Wohnung früh am morgen, der Weg nach Hause war anstrengend. Sie war ausgelaugt, erschöpft und wollte nur noch in ihr Bett.
Als sie jedoch an Chirons Zimmer vorbei kam, das sonst immer geschlossen war, hörte sie leises Schniefen bis hin zu Schluchzen. Es verwunderte sie,  Niemand außer ihr selbst war seit Chirons Tod in seinem Zimmer gewesen.
Leise öffnete sie die angelehnte Tür, warf einen Blick in das kleine, kalt wirkende Zimmer und fand ihren Dad, der auf Chirons Bett saß.
Er hielt ein Foto in seinen Händen, wischte sich ab und zu die Tränen aus dem Gesicht.

,,Dad?'', nuschelte die Schülerin, er bemerkte sie erst als ihre Stimme ertönte.
Er hatte schon länger hier gesessen, hatte die letzten vier Monate seine Trauer stets gut unterdrücken können. Doch es war schwer, es war schwer keine Gefühle zu zeigen wenn man vor kurzer Zeit seinen Sohn verloren hatte.
Wenn der eigene Sohn sich vor Kurzem selbst das Leben nahm. Es war unvorstellbar, leider wahr.
Als die Ermittlungen liefen, die Polizei Chirons Eltern sagte es war wahrscheinlich ein Mord gewesen hatte sein Vater es glauben wollen.
Er wollte glauben, dass es Mord war und kein Suizid. Er wollte nicht wahr haben, dass er seinen Sohn an die Depression verloren hatte.

,,Spatz.'', murmelte er überrascht, setzte sich gerade hin und versuchte sich sofort die bereits schon auf seinen Wangen angetrockneten Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Kia setzte sich neben ihn, betrachtete das Bild in seinen Händen das Chiron als 6-Jährigen darstellte.

,,Wir vermissen ihn alle.'', meinte sie dann, wusste nicht was sie in Momenten wie solchen sagen sollte. Etwas, das ihrem Vater gut tun würde. Doch was würde ihm schon gut tun in so einer Situation?
,,Ich hätte es vorher begreifen sollen.'', brummte er, den Blick gesenkt.
Die Schultern ließ er ausgelaugt nach vorne fallen. ,,Keiner hätte es begreifen können, Dad.''

,,Natürlich hätten wir das, wir hätten mit ihm reden können.'', fluchte er, sauer auf sich selbst. ,,Er hätte es uns nie erzählt.'' ,,Aber wir hätten es versuchen sollen, so lange bis er sich von uns wieder geliebt fühlt. Mit ihm reden, ihm gut zu reden, in den Arm nehmen.''
Wieder flossen die Tränen, auch Kia war den Tränen nahe, versuchte angespannt sie zurück zu halten.

,,Dad.'', brachte sie dann schmerzerfüllt heraus ,,Worte bringen keine Menschen zurück.''

One More Light | BTS √Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt