Kapitel 1

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Damals

1.

Mirabelle

„Es war mir nie bewusst, dass es so einfach war einen Traum zu ertränken. Doch jeder Hufschlag meines Rentieres schien ihn weiter unter Wasser zu drücken. Mit den Schritten, mit dem wir uns vom Schloss entfernten, schien die Distanz zu meinen alten Wünschen größer zu werden.

Ich hatte alles aufgegeben.

Wir ritten an dem See von Jaobe vorbei, der nun zu einer riesigen Scheibe gefroren war. Der Schneesturm wurde immer dichter und die Kälte brannte in meinen Augen. Ich warf einen kurzen Blick zur Seite, um mich zu vergewissern, dass Carlee noch neben mir ritt.

Sie schien meinen Blick zu spüren, nahm wieder ihre stocksteife Generalshaltung ein und lächelte mich an. Ihre Lippen waren bläulich und zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

Doch wie ich sie kannte, ließ sie sich ihren Schmerz nicht anmerken und versuchte stattdessen mich aufzumuntern.

Bald sind wir da, schien ihr gefrorenes Lächeln zu sagen und sie schaute wieder nach vorne.

Wir hatten die Flucht aus dem Schloss schon Wochen vorher geplant und es war uns endlich gelungen.

Die Kälte biss sich in meine Haut, doch ich ließ mich nicht von ihr beirren. Ich spürte mit jedem Atemzug, dass es die richtige Entscheidung war.

Die Gewalt des Schneesturms nahm mit einem Schlag ab und zwischen den Flocken konnte ich dunkles Grün aufflackern sehen. Wir hatten den Wald erreicht.

Die Anspannung fiel von mir ab und auch Carlees Lächeln wirkte endlich ehrlich. Der Schneesturm verdeckte unsere Fährte und wir hatten uns einen Vorsprung verschafft.

Trotz der fehlenden Orientierung schafften wir es durch den Wald zu reiten und die Stadt Jaobe zu erreichen, die nicht so nah wie Cylnie am Schloss der Königin lag. Die Straßen waren wie ausgestorben, doch in den Gaststuben und Herbergen sah man Licht und reges Treiben.

Ein paar Männer grölten die Nordische Nationalhymne und ich hörte wie ein Mann nach einer neuen Suppe verlangte.

So waren sie eben, man nannte Jaobe auch die Bauernstadt. Die Menschen waren hier ehrlich, direkt und hatten sich an ihr einfaches Leben angepasst. Wenn die Adeligen von Cylnie über sie sprachen, dann rümpften sie ihre Nase, als würde die Jauche bis in die Hauptstadt stinken. Dabei stank es hier nicht mal, die Menschen waren nur eben nicht so verstockt wie am Hof.

Wieder schaute ich in eine beleuchtete Stube aus der Musik drang. Wie gerne wäre ich hineingegangen und hätte nur eine halbe Stunde mit ihnen getanzt?

Warme Erinnerungen von meinen Tänzen mit Lysander und den Abenden bei meiner Familie tauchten vor mir auf. Doch auch sie konnten meine Nase nicht wieder auftauen oder das zurückholen, dass ich vor so vielen Jahren aufgegeben hatte.

Wir ritten weiter und die Musik verstummte. Unseren Vorsprung mussten wir nutzen. Auch wenn wir nur gewöhnliche Auszubildende waren, sie würden uns suchen und uns wieder in den Dienst der Königin zwingen. So war das eben. Hatte man sich einmal verpflichtet, dann war es für immer.

Mein Herz sackte mir bei den Gedanken an meinen Dienst wieder in die Knie. Hätte ich es vorher wissen müssen? War ich dumm gewesen mich so jung darauf einzulassen?

Doch damals wusste ich es schließlich nicht besser.

In meinem Inneren herrschte ein Gefühlschaos. Veränderungen und Ungewissheit waren die beiden Dinge, die ich am meisten hasste und jetzt schmiss ich mich ohne zu zögern in sie hinein.

AbluvionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt